Die Tage seit dem letzten Eintrag waren sehr abwechslungsreich, und oft dachte ich mir: „Das hättest du dir aber vor drei Stunden auch nicht träumen lassen, dass du jetzt hier sitzt!“ Zum Beispiel als ich mich auf einmal in voller Montur in einem Hallenbad – Chlorgeruch, warm – wiederfand und Perlentauchern dabei zusah, wie sie tief unterm Wasser ohne aufzutauchen ihre Bahnen schwammen. Das alles mit einem „Hakuna Matata“ auf Repeat in meinen Kopfhörern.
Auch ist es weiterhin ein Feuerwerk an kleinen Sinneswahrnehmungen. Gerade sitze ich zum Beispiel wieder in einem Café, das auch eine Cocktailbar ist, und der Mann bugsiert mit einem seltsamen Teleskopgreifarm ganz vorsichtig Flaschen auf ein drei Meter hohes Regal. Wieder ein kleiner Eindruck. Zwei Geschichten sind aber besonders schön, eigentlich drei, puh, die ich ausführlich zu erzählen versuchen werde. Zur Orientierung: meinen Knien geht es die ganze Zeit so mittelgut, und deshalb bin ich hier durch verschiedene Städte der Emilia-Romana gefahren, immer wieder dort geblieben, dann mal wieder 12km oder so gefahren, etc. Forlí, Faenza, Imola, jetzt Bologna.
Ich mach das jetzt ganz gewieft: zuerst erzähle ich eine ziemlich absurde Geschichte, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, dann eine etwas unspektakuläre, aber doch auch tiefsinnige Geschichte, und am Ende etwas ganz schönes.
Zuerst also die Absurde: Als ich in Bologna ankam setzte ich mich in ein Café und kam mit einem jungen Paar (er 28, sie 22) ins Gespräch. Letztlich habe ich den ganzen Nachmittag bis 23 Uhr mit ihnen verbracht, da ich auf meinen tollen Gastgeber und Freund hier in Bologna wartete. Wie es so ist, wenn sich zwei solche Menschen treffen, habe ich mit diesem Mann nach zwei Minuten über den Sinn des Lebens und die gegenseitigen philosophischen Biographien gesprochen. Das heißt, er hat meistens geredet und ich habe Fragen gestellt und zugehört. (Ich finde das etwas magisches, wie zielsicher zwei Menschen, die philosophische Fragen mit sich tragen, auch bald im Gespräch dazu finden. Oder wenn zwei Wagner-Fans sich treffen dauert es nur vier Sätze, und schon ist man von jedem beliebigen Ausgangspunkt schnurstracks bei Wagner angelangt.) Er war mir nicht sonderlich sympathisch, aber es war ganz interessant, ich hatte nichts anderes zu tun und er war offensichtlich so harmlos wie ein Lamm. Schnell wurde mir klar, dass er etwas special ist, das heißt, er war die letzten Jahre jeden Sommer in der Psychiatrie gewesen, und hat bald extrem intensiv von Rudolph Steiner und den Theosophen geredet, da war das Gespräch vielleicht 10 Minuten alt. Er hat sehr mystisch geredet, völlig die Grenzen der Sprache sprengend. Also das ist mir bei ihm ganz klar geworden, dass die Sprache für so eine Mystik fast völlig unbrauchbar ist und man eigentlich nur noch in Paradoxen reden kann. Auch muss man sich ständig selber widersprechen, wenn man mal aus Versehen einen Satz gesagt hat, der nicht paradox, sondern klar ist. Immer wieder dachte ich sein Weltbild verstanden zu haben, bis er mir heftig widersprach und wieder einen krassen Monolog startete. Oft hat er mir rhetorische Fragen gestellt, und diese Fragen immer intensiver wiederholt, bis es fast schrie, sie dann selber beantwortet, wieder etwas gefragt, Tränen in den Augen, etc. Ich war während seinen Ausführungen emotional völlig ruhig und unberührt. Ruhige „Ahja“s habe ich meistens geantwortet und dachte mir, dass ich vielleicht doch den einen oder anderen interessanten Gedanken von ihm mitnehmen könne. Um nur ein Beispiel zu geben, einmal meinte er, sobald man aufhöre zu zappeln sei man Buddha; sobald man körperlich ruhig sei, sei man auch geistig ruhig (wobei er mir hier sicherlich völlig widersprechen würde, da er einen riesigen Unterschied zwischen Körper, Geist und Seele machte, und zwischen Jesus und Christus, und Buddha sei die Seele von Jesus, und Zarathustra der Geist von Christus oder andersrum. An dieser Stelle hätte er mir bestimmt ganz tief in die Augen geschaut und gesagt: Du bist Buddha, glaubst du mir das? Glaubst du mir das? Um dann, auf dem Höhepunkt der Spannung, ganz erschöpft zu sagen: Wir alle sind Buddha, jeder.). Nungut, also es geht stundenlang so weiter, immer wieder wurde natürlich auch über nicht-philosophisches gesprochen, da er von seinen eigenen Reden ganz erschöpft war (sodass ich mich dann sehr nett mit seiner Freundin unterhalten konnte) und am Ende des Abends fragt er mich: „Was denkst eigentlich du? Wenn du ein Fisch wärst, was ist dein Wasser, wenn du ein Vogel wärst, was ist dein Wind, wenn du ein etc. etc. etc.?“ Und ich freue mich, denn zum ersten Mal interessiert er sich für mein Weltbild, beziehungsweise zum ersten Mal bittet er mich, selber meine Gedanken auszuführen statt nur auf ihn zu reagieren. Ich fange also kurz an, sage zwei Sätze, und er stimmt mir zu, ich sage noch einen Satz, er hakt ein, nach dem Motto: „Da muss man aber aufpassen, nicht das und das zu vergessen“. Ich antworte: „Ja, das stimmt, ich vergesse das auch nicht, denn (…)“. Und was sagt er, ganz aufgebracht und sich von mir abwendend? „Genug! Genug! Das reicht!“ und beendet unser Gespräch, und eine Minute später haben wir uns verabschiedet.
Sehr beeindruckendes Erlebnis. Stundenlang hatte er echt klug geredet, und ich dachte mir noch „Wow, so jemand muss regelmäßig in die Psychiatrie, dabei hat er manche Dinge vielleicht besser verstanden als wir alle zusammen“, denn oft klang es echt nach Siddartha im Endstadium. Aber seine letzte Reaktion hat mich sehr enttäuscht: nach etwa fünf harmlosen Sätzen von mir war er schon so emotional überfordert, dass er diese Impulse nicht mehr aushielt und die Flucht suchte.
So, nun eine Geschichte über zwei Bauernhöfe: Als ich abends durch die Felder zwischen Forlì und Faenza gefahren bin, musste ich einen Bauern fragen, ob ich mein Zelt aufstellen darf, denn auf so bestellten Feldern kann man ja doch nicht einfach wild zelten und gemütlich das Kochen anfangen. Mein Ziel beim Wildzelten ist ja, einen vollkommen entspannten Ort zu finden; ich suche also entweder einen Ort, an dem mich niemand sieht, oder stelle mich mit den Menschen gut, die mich sehen. Ich frage also eine alte Frau, sehr ordentlich, gepflegtes Haus, ob ich auf der Wiese neben ihr zelten kann. Sie windet sich: „Oh, ich kenne den Patron nicht“ und so weiter. Ich winde mich auch. Irgendwann bietet sie mir Wasser an, und als alle meine Flaschen gefüllt sind auch noch Äpfel. Dass ich in ihrem riesigen Garten schlafen könnte, auf diese Idee kommt sie nicht. Ich könnte bei einer Kirche fragen uns so weiter, sagt sie mehrmals. Ich bin mir sicher, dass ihr das einfach nicht in den Kopf kam, was ich ganz interessant finde, wie weit Menschen sich von so einer eigentlich naheliegenden, unmittelbaren Hilfsbereitschaft entfernen können. Ich fahre also weiter und komme paar hundert Meter weiter an einen heruntergekommenen Bauernhof, dessen Anwesen mehr an einen Schrottplatz erinnert, und denke mir: Perfekt, die werden es mir nicht abschlagen. Als ich die Frau anspreche, fragt sie mich: „Bist du von der Polizei?“ was ja absurd ist, und mein Lachen macht dann auch schnell klar, wie wenig Wachtmeister ich bin. Wenn ich mir aber überlege, dass ich lauter blaue Taschen, eine blaue Fleecejacke und einen blauen Helm aufhatte, ist es vielleicht etwas verständlicher. Nungut, ich darf dort nicht nur zelten, sondern werde sogar ins Gästezimmer eingeladen, esse mit der ganzen Familie lecker zu Abend, und die ganze Familiengeschichte wird mir unter Aufbietung aller verfügbaren Emotionen erzählt, ohne dass ich auch nur ein Wort davon verstehe. (Überhaupt ist das eine Beobachtung von mir auf dieser Reise: wenn ich mit Leuten rede, erzählen sie ständig von sich selber. Mal sehr, mal weniger interessant. Aber dann denke ich mir schon manchmal: Leute, ist ja echt nett, dass ihr soviel erzählt, aber meint ihr nicht, ich, zumal in meiner aktuellen Situation, habe auch etwas zu erzählen? Meistens sage ich nicht mehr als woher ich bin und wohin ich gehe, und den Rest des Gesprächs reden sie. Und ich spreche hier von Unterhaltungen auf Englisch, also der Grund ist nicht, dass ich wenig italienisch kann.)
Also das war ein krasser Unterschied. Diese erste Frau, bei der alles schön scheint, kommt nicht auf die Idee, mir zu helfen, sondern verweist auf andere (hier die Kirche). Die zweite Familie war, um es vorsichtig auszudrücken, eine echte Lasterhöhle (sie hatten natürlich nicht grundlos gefragt, ob ich von der Polizei bin), und waren offensichtlich wie Ausgestoßene, deren Grundstück niemand betreten und mit denen niemand Kontakt haben will, ein bisschen wie die Cletus-Familie bei den Simpsons. Die waren hingegen so nett und herzlich, sie hätten mir wirklich ihr letztes Hemd gegeben, und ob die Frau mir herzlich einen Schmatzer auf die Backe gedrückt hat, weiß ich nicht mehr, aber es hätte in die Stimmung gepasst. Das Thema dieser Geschichte ist wohl Gastfreundschaft, ein, wie Erich Fromm sagen würde, stolzes Wort.
Die letzte Geschichte ist die schönste: ich kam nach Faenza, und setzte mich in einen Park und suchte nach Couchsurfern. Auf der Website fand ich eine junge Frau, die sich als fröhlich und Geigerin beschrieb, und so schrieb ich sie, von Musiker zu Musiker, an. Sie rief sofort zurück und sagte, von ihr aus sei es kein Problem, sie wohne aber erst seit drei Tagen in der WG und deshalb müsse sie erst ihre Mitbewohnerin fragen. Das könne sich noch ein paar Stunden hinziehen, aber auf alle Fälle könne man sich in einem Cafe treffen. Kein Problem, sagte ich, ich warte hier einfach im Park und koche mir in der Zwischenzeit Pasta. Ich habe Zeit und Geduld. Da kam mir dann eine schöne Idee: ich könnte sie doch auf einen Kaffee zu mir einladen, in den Park, und dann kam sie auch, und es war eine sehr schöne Situation: ich, der Fremde, lade sie, die Einheimische, auf meine Isomatte ein, auf einen mit dem Campingkocher gekochten Kaffee. Man muss bedenken, dass es überhaupt noch nicht klar war, dass ich dort schlafen können würde, und ich stellte mir vor, wie cool es wäre, wenn ich in die Stadt komme, eine Einheimische einlade – ich ihr sozusagen Gastfreundschaft erweise – und dann weiter fahre und man sich nie wieder sieht. Es war ein sehr nettes Treffen. Schnell wurde ich von ihr auf eine große Party am nächsten Abend eingeladen, sodass ich schließlich drei Tage in Faenza bei ihr blieb. Und diese Party, meine deutschen Freunde, war… im Englischen sagt man: This party was… something else. Also sie war so italienisch, wie man es sich nur vorstellen kann. Sie fand in dem Landhaus der Eltern meiner Gastgeberin statt, die dort früher in einer Kommune gelebt hatten, und es war paradiesisch: den Weg zum Haus säumten lauter uralte, verdreht verwachsene Olivenbäume, es gab Zypressen, der Blick auf Täler und Berge, es gab zig Zimmer, es gab außen überdacht eine lange massive Holztafel, es gab eine Küche mit großen Geräten aus der Gastronomie, einen großen Pizza-Ofen, es war ein lauer Sommerabend, wir haben stundenlang zusammen Musik gemacht, Gesang mit 3 Gitarren, Geige, Akkordeon, spontaner Percussion auf Alltagsgegenständen, und es gab ein herrliches Abendessen, Pasta mit Trüffeln, dann Pasta mit Hackfleisch, dann Ofenkartoffeln mit anderem Fleisch und Rosmarin, und dann Mascarpone mit so Bratäpfeln… Also, die Italiener, und Giulia im speziellen, wissen wie man schön feiert. Zwei Dinge aber verdienen besondere Erwähnung, weil sie eben ganz unterschiedlich zu deutschen Feiern waren: erstens die Lautstärke der Gäste (es waren vielleicht 80 zum Höhepunkt, aber meistens saß man in kleineren Gruppen zusammen). Also die lieben Leute waren dermaßen laut und extrovertiert, dass sie auf eine fast schon erschreckende Weise dem Klischee entsprachen. Zum Beispiel hörte man am Anfang ein unglaubliches Männer-Geschrei aus der Küche, minutenlang. Wie Wahnsinnige. (Die Festgesellschaft reagierte, in dem sie aus vollem Leib lachend zurück in Richtung Küche schrie.) Was war passiert? Ein paar Männer kochten dort, und hatten wohl so „Stationen“ in der Küche (Schnibbeln, Rühren, Waschen…), und in einem sehr schnellen Rhythmus wurden die Stationen im Uhrzeigersinn durchgewechselt, sodass es ein völliges Drunter-und-Drüber, ein Lachen, und ein Schreien war. Echt cool! Aber auf einer deutschen Studentenparty habe ich das noch nicht erlebt, soviel Extrovertiertheit den ganzen Abend! Der zweite und größte Unterschied war die Musik, die im Tanzraum lief. Da ich als Jugendlicher auf vielen Hochzeiten gekellnert habe, kann ich sagen: es lief eine Musik, die so unschuldig, wohlklingend und schmalzig war, wie in Deutschland zu schmalziger, später Stunde bei Hochzeiten. Das war ganz verblüffend. Romantische Evergreens, international und viel italienisch, liefen den ganzen Abend und den nächsten Morgen. Unschuldig ist das Wort, das es am besten beschreibt. Einfach überhaupt nicht so „abgefuckt“ wie deutsche Partymusik. So viele angenehme Melodien und Harmonien, dass deutsche zeitgenössische Partymusik dagegen wie Zwölftonmusik wirkt. Sehr interessant.
Was ich nicht zu erwähnen brauche ist, dass die Hauptsache, alles menschliche und zwischenmenschliche, auf dieser Party natürlich exakt identisch zu deutschen Partys war: die Charaktere, die Beziehungen, die Probleme und Sorgen, die Stimmungen. Offensichtlich machen diese wunderschöne Landschaft und das fantastische Essen, sogar die wohlklingende Musik, die Menschen kein kleines bisschen glücklicher; sie sind einfach daran genauso gewöhnt wie wir an unsere Kultur.
Nun, das also drei Geschichten aus der letzten Woche. Wie es weiter geht mit meinen Knien und der Reise, ist, wie es sich für eine ordentliche Zukunft gehört, ungewiss.