Wahrheit

24. März, morgens, in Fürth

Ich hab gerade die Frage gelesen, was die Vor- und Nachteile von Wahrheit seien.

Es gibt ja dieses Bild, dass die Religionen wie unterschiedliche Perspektiven auf die eine Wahrheit sind: diese sei wie ein großer Berg, die Religionen schauen aus unterschiedlichen Richtungen darauf, und deshalb hat er laut der einen Religion diese und laut der anderen Religion jene Form.

Die Wahrheit hat schon wirklich diese multidimensionale Eigenschaft. Egal wie viele Menschen über die Wahrheit reden, sagen wir 6, oder 7, oder 8, sie gibt immer genug her für noch eine weitere Perspektive, sollte ein neunter hinzukommen. Und für noch eine Dimension. Nicht nur kann jeder sagen: aus dieser Perspektive sieht er aber eher so aus. Sondern ein Berg riecht ja zum Beispiel auch. Also wenn jemand kommt und sagt: „Hey, aber ihr habt überhaupt nicht darüber gesprochen, dass der Berg auch riecht!“ Also das ist ja der Wahrheit völlig egal, ob die anderen darüber schon gesprochen haben oder es abstreiten oder ob sie Lust haben, darüber zu sprechen: der Berg riecht tatsächlich. Und wenn jemand sagt, der Berg schmeckt, oder der Berg erschöpft die Muskeln, oder hat eine Temperatur, oder der Berg hat einen Klang, dann ist das alles wahr. Und wenn es jetzt ein Alien geben würde, dass einen weiteren Sinn hat, den wir Menschen nicht haben und uns nicht vorstellen können: der Berg wird auch diese Dimension „beliefern“ können. Kommen noch 1000 Aliens, nicht nur mit 1000 neuen Perspektiven, sondern 1000 neuen Sinnen, das wird doch den Berg nicht herausfordern. Der braucht überhaupt nichts tun, er ist einfach ein Berg und jede hinzukommende Perspektive und Dimension wird das bestätigen.

Ein echter Berg wird ohne irgendetwas tun zu brauchen in jeder Dimension aus jeder Perspektive ein echter Berg sein. Ein Fake-Berg wird ohne irgendetwas zu tun zu brauchen in jeder Dimension aus jeder Perspektive ein echter Fake-Berg sein, aber nur in wenigen Dimensionen aus wenigen Perspektiven wie ein echter Berg scheinen.

Rückblick auf der Reise dritter Teil

In den letzten Wochen hat mich der Strom der Reise entgültig mit- und von der Tastatur weggerissen. Immer wenn ich darüber nachdachte, mich hinzusetzen und zwei Stunden oder so für das Schreiben eines Blogeintrags zu verwenden, entschied ich mich wieder dafür, sich weiter dem Strudel der Reise hinzugeben anstatt eine Auszeit zu nehmen und die Beobachter/Erzähler-Perspektive einzunehmen. Selbst nachdem ich jetzt hier an meinem Zielort angekommen bin, habe ich vier Tage gebraucht, um einen Moment zu finden, in dem es mir richtig vorkam. Dieser Moment sieht so aus: ich sitze in der Morgensonne an der portugiesischen Küste, die Bananen flattern ruhig im Wind, man hört leises Vogelgezwitscher, ich habe gerade 15 Minuten das Ende der Walküren-Oper gehört und Kaffee getrunken, und bevor ich gleich damit anfangen werde, Gästezimmer neu zu streichen, habe ich sicher noch genügend Zeit für den Blogeintrag. (Im Laufe des Schreibens werde ich mir die Fleece-Jacke ausgezogen und in T-Shirt und kurzer Hose weitergeschrieben haben. 18 Grad sagt die Wetter-App, im Schatten nehme ich an.) Die anderen schlafen noch, aber selbst im wachen Zustand wären es die letzten, die mich zu irgendwas nötigen oder gar stressen würden.

Bei meinem letzten Eintrag fuhr ich gerade von meinem Aufenthalt bei dem Koch in Viareggio in Richtung Genua. Es war ein schöner Tag an der flachen Küste entlang, und das Zelt schlug ich dann in den Bergen an einem Fluss im Nieselregen auf. Wenn am nächsten Morgen die Sonne geschienen hätte, und ich noch dort gewesen wäre, wäre es sicher ein traumhaftes Frühstück geworden; die Sonne schien aber nicht, sondern es regnete, und ich war am Morgen schon nicht mehr dort. Die Aktion, die wohl der Reise dritten Teil einläutete, war: am Abend beschloss ich, angeregt von meinem Vater, um 4:30 in der Früh aufzustehen, nach La Spezia zurückzuradeln, dort einen Zug nach Genua zu nehmen, um dann noch die Fähre zu erreichen, die um 13 Uhr nach Barcelona abfuhr. Diesen Plan setzte ich dann um, und es war eindrucksvoll, denn ich fuhr also Nachts mit meiner Kopftaschenlampe durch die Berge, und es regnete immer stärker, bis es wirklich aus vollen Kübeln goss. Um 5 fuhr ich los, um 7:03 kam ich am Bahnhof ein, sprang in den Zug am Gleis, er fuhr um 7:06 los, und innen kaufte ich mir ein Ticket. An diesem Morgen erlebte ich wieder eines dieser wiederkehrenden Motive: man beginnt eine Sache, zum Beispiel morgens zum Bahnhof fahren, und für einen selber macht die Sache Sinn, und erst regnet es leicht, und dann immer stärker, aber wenn man dann an Passanten vorbei fährt, Nachts im Starkregen, merkt man, dass man auf andere völlig verrückt wirken muss.

Nach einer Komplikation, die durch einen bösartigen Sicherheitsmann am Hafen ausgelöst wurde, der mir unfreundlich allerlei Probleme bereitete (zum Glück die einzige solche Erfahrung auf der Reise), hatte ich schließlich ein Ticket in der Hand und wartete noch zwei Stunden im Regen vor der Fähre. Das waren sehr intensive, sagen wir, 48 Stunden, von der Entscheidung in den Bergen bis zur Ankunft in Barcelona, denn: ich lernte so viele Menschen kennen. Beim Warten im Regen auf die Fähre traf ich Jürgen, einen Aussteiger der seit Jahrzehnten mit dem Fahrrad durch die Welt tingelt. Er überzeugte mich, mit ihm auf der Fähre bis nach Tanger in Marokko mitzufahren, und dort dann direkt die kleine Fähre über die Straße von Gibraltar zurück nach Spanien zu nehmen. Das war dann, als ich auf der Fähre war, mein Plan, und ich besorgte die ganze behördliche Einreise nach Marokko. Als nächstes traf ich zwei wundervolle Australier, bisschen über dreißig, mit dem Motorrad unterwegs, die aus der Fahrt ein großes Trink- und Essgelage machten, mich zu allem einluden, und wir erzählten, lachten und weinten bis spät in die Nacht. Die werde ich nie vergessen, und sicher nochmal wieder treffen. Ich erzähle jetzt noch ein bisschen weiter, und dann komme ich auf sie zurück. Als nächstes traf ich dann am nächsten Morgen auf der Fähre einen buddhistischen Mönch, mit dem ich wieder den ganzen Vormittag redete (nicht sehr inspirierend! Tibetanischer Buddhismus, voller Traditionen, Überlieferungen, Dekrete, etc. Ich glaube es wäre ähnlich, mit einem vatikanischen Kurienkardinal zu reden. Wie Mephisto sagt: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum!“ Übrigens auch die Einstellung zur Sexualität ist ähnlich der katholischen Kirche, mit ähnlichen Argumenten: Eigentlich ist es ja nichts böses, aber wir müssen es streng verbieten, die Türen streng verschlossen halten, denn wären wir auch nur ein bisschen laxer, würde Chaos ausbrechen…). Und dann entschied ich mich spontan, doch in Barcelona auszusteigen und nicht bis Marokko mitzufahren, da ich den Eindruck hatte, wie man so sagt, über den Morgen vom Universum mehrere Zeichen bekommen zu haben, die Sache doch nicht zu machen. Der Rest ist dann schnell erzählt. Von all diesen Eindrücken emotional erschöpft – das Wwoofen, der Regen, der Koch, Jürgen, die Australier, der Mönch, und alles, was ich dazwischen erlebte – kam ich in Barcelona schnell zu der Entscheidung, dass ich auf dieser Reise genug erlebt hatte, dass es mit den Knien nicht wirklich weitergeht, und dass ich Lust darauf habe, nach Portugal zu kommen und mich dort niederzulassen. In den folgenden Tagen tingelte ich also durch Spanien, mit Zügen, einem Autostop-Versuch, einer Bus-Nachtfahrt, und auch mit dem Fahrrad. Irgendwann war ich dann tatsächlich in Portugal, und verbrachte zwei Tage an einem sehr schönen Strand in der wolkenlosen Hitze. Ich geb mal einen kurzen Eindruck wie das so war: ich traf eine sehr nette holländische Frau, mit der ich mich auch noch am nächsten Tag traf, eine Seelenverwandte, wenn man so will. Ich traf einen Belgier, der am morgen Muscheln am Strand sammelte und mir ein tolles Muschelgericht in seinem Wohnmobil zu Mittag kochte und mir an den Strand brachte. Ich traf deutsche Aussteiger, die ohne Krankenversicherung in ihrem Uralt-Wohnmobil ausgestiegen sind. Ich traf ein polnisch-englisches Paar mit Kind, die auch in ihrem Wohnmobil lebten, Homeschooling machte, und über Skype als Coaches arbeiteten. Sie luden mich zum Abendessen ein. Sie waren außerdem irgendwie seltsam radikale Patchwork-Buddhisten, so könnte man es wohl sagen: Sie hielten sich selber für Buddhisten, aber aßen zum Beispiel Fleisch 😃 redeten irgendwann intensiv in ganz absolute Tonfall auf mich ein, nur um später wieder eine Anything-Goes-Haltung anzunehmen. All diese Leute traf ich an einem Tag, plus noch einen deutschen Radfahrer, zwei Holländische Motorradfahrer, und Engländer. Und die portugiesischen Barkeeper… Was ich damit sagen will ist: ich treffe auf der Reise so viele verschiedene Menschen und Lebenswege, das macht einem echt den Kopf klar. Ich erzähle aber noch ein bisschen weiter, und komme dann später darauf zurück.

Von dem Strand schließlich, das ist die letzte Etappe, fuhr ich nach Aljezur, wo ich jetzt noch bin. Martin, den ich beim Wwoofen kennengelernt habe, einer der beiden Nach-Indien-Reisenden, hatte mir von einem Surfer-Hostel erzählt, bei dem ich vielleicht wohnen und arbeiten könnte. Mit dem Besitzer nahm ich Kontakt auf, es passte perfekt, und jetzt wohne ich also hier. Wir leben hier als 4 Männer, und den ganzen Tag kommen irgendwelche Surfer-Freundinnen und -Freunde vorbei, viele mit kleinen Kindern, oder mit Hunden, und viele mit Instrumenten, denn unsere Hauptbeschäftigung ist neben Essen und Schlafen Jam-Sessions. Die Leute hier sind wirklich sehr sympathisch, höflich und entspannt. Es ist auch hier wieder so, dass die Leute teilweise sehr intensive philosophische Einstellungen haben, und krasse Lebenswege (das Durchschnittsalter all dieser Leute und Freunde ist etwa 40). Hier bleibe ich jetzt also, und denke meine Reise ist, geographisch zumindest, am Ziel angekommen. Der Reise vierter Teil, wo ich in Aljezur wohne, hat also begonnen.

Gut, also worauf ich zurückkommen wollte. All diese Menschen, all diese Einstellungen, all diese Lebenswege… Es ist echt eine zentrale Erkenntnis dieser Reise. Alle streben sie irgendwie nach etwas, manche noch aktiv, manche sind schon ermüdet oder in irgendeiner Sackgasse hängen geblieben und streben nur noch frustriert und passiv, manche meinen die Wahrheit gefunden zu haben und sind total überzeugt davon, manche denken überhaupt nicht in der Kategorie „meine Philosophie“ oder „Wahrheit“ aber haben, ohne es sich bewusst zu sein und ohne darüber reden zu können, einen ganz klaren Kompass gefunden. Alle haben ihren eigenen Lebensweg, manche haben ihn bewusst gewählt, andere nicht, der eine Lebensweg ist, wenn man so will, „extrem“ oder außerhalb der Norm, ein anderer ist eher unspektakulär. Manche leben voll im System, manche halb im System, manche versuchen gar nichts mehr mit Behörden, Versicherungen und Arbeitgebern zu tun zu haben. Manche setzen auf Drogen, manche nicht. Manche haben enge Freundeskreise und Partner, andere reisen ihr ganzes Leben mehr oder weniger allein und haben immer nur kurze Vor-Ort-Freundschaften. Alle haben andere Herausforderungen, Schwierigkeiten und Kompromisse, keiner hat keine.

Das ist für mich sehr wertvoll, und eine Überraschung. All diese verschiedenen Kompasse kennenzulernen, die die einzelnen Menschen leiten, man beginnt Gemeinsamkeiten zu entdecken, Unterschiede. Deshalb verwirrt mich diese Vielfalt nicht, im Gegenteil, ich fange eben an, Muster zu erkennen, und all diese Einstellungen, auch meine eigenen, mit einer entspannteren Distanz zu betrachten. Manche inspirieren einen mehr, manche weniger. Viele haben Dinge verstanden oder gemeistert, die ich noch nicht verstanden oder gemeistert habe. Die eine Lehre, der ich mir aber nun ziemlich sicher bin, ist: „Es irrt der Mensch, solang er strebt“ sagt Goethe, und es ist gefährlich, zu meinen, man habe aufgehört, sich zu irren. Wir alle streben nach etwas, und es ist ein sehr gefährlicher Punkt, wenn man meint, es gefunden zu haben. Je überzeugter mir ein Mensch von „der Wahrheit“ erzählt, desto wahrscheinlicher, dass ich etwas ernüchtert und mit Mitleid ihm Gegenüber weiterziehe, da ich mir denke: ich wünsche ihm, dass er wieder an den Punkt kommt, wo er wieder anderen Ideen zuhört, sich selber Zweifel an seiner eigenen Einstellung erlaubt, und für neue Impulse offen ist. So oft hören sie nur zu, um sofort, während man noch redet, die neue Information in ihr bestehendes Framework einzupassen. Die inspirierendsten Mensch für mich waren diejenigen, die das unmittelbare menschliche Miteinander gemeistert hatten: freundlich waren, respektvoll, herzlich, offen, neugierig, energievoll. An einer echten Begegnung interessiert. Nicht die, die etwas Eindrucksvolles erzählten oder lebten. Es ist lustig, die, die dachten, mich total beeindruckt zu haben, oder hofften, mir total den Denkanstoß gegeben zu haben, haben es meistens nicht. Und die, die das wirklich getan haben, waren oder wären darüber wahrscheinlich überrascht. Shoutout to Herbert in Österreich, er war genau einer dieser inspirierenden Menschen 🙂

PS: Eine Anekdote zum Schluss, damit ich sie nicht vergesse: als ich mit dem Jürgen zusammen unsere Fahrräder in den Bauch der Fähre schob, wussten wir nicht, wo wir sie abstellen sollten. Unsere Mitreisenden auf der Fähre waren zu 95% marokkanische Händler. Einer von ihnen geht so zu mir und sagt ganz schwungvoll: „My friend, my friend!“ und zeigt mir einen unbeleuchteten, offenen Container, in dem ich mein Fahrrad abstellen soll. Ich – voll Vertrauen in die Welt – laufe ihm nach, und stelle mein Fahrrad abgeschlossen hinten in eine dunkle Ecke des Containers. Als der Jürgen das sieht, sagt er: „No way, da stell ich mein Fahrrad niemals hin, die Sache kommt mir spanisch vor. In dem schwarzen Loch da steht dein Fahrrad?!“ Ok, ich glaube ihm, nehme mein Fahrrad wieder raus, und wir stellen die Räder woanders ab. Jürgen lächelt schief und meint, der wollte uns wohl übers Ohr legen. Naja, und ich dachte mir halt: „Wow, da wär ich jetzt voll reingesappt! Ich, mit meiner Idiot-von-Dostojewski-Einstellung hätte ihm jetzt einfach vertraut, und bei der Ankunft wäre mein Fahrrad weggewesen! Dabei war ich bisher doch so gut damit gefahren, meinem Gespür für Menschen zu vertrauen! Was lerne ich jetzt daraus? Wie mach ich es in der Zukunft??“ Tada, und was war das Ende der Geschichte? Wir hätten dem Marokkaner vertrauen können, denn der Container war tatsächlich von der Fährgesellschaft für lose Gepäckstücke aufgestellt worden. Gute Geschichte, finde ich.

PPS: Sobald in Spanien mein Spiritus ausging, ging ich in einen kleinen Supermarkt in Barcelona, und dort gab es klaren, unparfümierten, 96%igen Spiritus. 69 Cent für 250ml. Ich hatte mich mittlerweile natürlich an das rosa Zeuchs perfekt gewöhnt. Jetzt riecht es zwar nicht mehr nach Kirsch-Kaugummi wenn ich koche, aber dafür rußt es wieder viel mehr. ¯\_(ツ)_/¯ Das als Nachtrag zur Spiritus-Geschichte. Hier in Aljezur aber brauche ich den Kocher aber natürlich nicht mehr zu benutzen, und ich schätze die neuen Annehmlichkeiten sehr, zum Beispiel fließend Wasser 😮

Die Reise geht weiter

Freitag, 3. November, Abends, bei Monteriggioni.

Die Reise geht weiter, und ich bin wieder in meiner „natürlichen Position“ angelangt: im Zelt, im Nassen, an einem Waldrand, total gemütlich (Memo to myself: ich muss morgen AA und AAA Batterien kaufen, die Tastatur blinkt und meine Kopftaschenlampe wird immer schwächer). Der letzte Blogpost ist – aus Gründen – schon länger her, und zwar ist seit letztem Mal folgendes passiert:

Ich war in Bologna beim lieben Pietro, einem Geiger, für eine sehr schöne Woche. Zwei Zitate von Pietro: „Man muss im Leben ein Ziel haben und dann die Etappen dorthin genießen“ und (aus heiterem Himmel): „Wenn ich dich als Gott malen würde, dann in einer Hand Knoblauch und in der anderen Rosmarin“. Sehr nett also, diese Zeit. Etwa einen Tag nach dem letzten Blogpost habe ich dann mit Rainer, dem Mann meiner Patentante, telefoniert, der in einer Klinik mit dem Lösen von Knieproblemen sein Geld verdient. Er hat aus der Ferne, anscheinend sogar nur durch das Lesen des Blogs, die richtige Diagnose gestellt: irgendwie sind Mikrorisse in meinen, sozusagen, „Knieknochen“, und die Standard-Therapie sei 6 Wochen Pause. Also war für mich klar, dass ich ein bisschen Pause machen muss. Ich habe dann ein paar WWOOF-Höfe angeschrieben, und weil sich die in der Region, in der ich war (Emilia Romana) nicht gemeldet haben, habe ich Höfe in der Toskana angeschrieben, in die ich ja eigentlich fahren wollte, bevor ich an meinem Schicksalsberg hängengeblieben bin. Es meldete sich sofort ein deutschsprachiger Hof-Besitzer, aus der Schweiz stammend, der Hilfe bei der Olivenernte brauchte. Große Euphorie brach in Bologna aus, und ich sollte also am nächsten Morgen nach Siena fahren. Der Tag hatte dann noch manch andere schöne Wendung: Pietro sollte mit seiner Geige bei einem Nachmittags-Gesangs-Konzert aushelfen, dass von einem Verein von Opernliebhabern organisiert wurde. Ich sagte zu Pietro: wenn es nicht allzu viel kostet komme ich. Er weckte mich kurze Zeit später aus meiner Siesta mit einer Einladung in der Hand, sodass ich mit freien Eintritt in diese geschlossene Veranstaltung konnte. Pietro hat fantastisch gespielt, „Meditation“ aus Thais und den ersten Satz der Frühlingssonate, und die anderen sangen alle möglichen Szenen aus verschiedenen Opern (kein Wagner dabei). Danach wurden wir beide noch zum Abendessen der Opernliebhaber eingeladen, was super in unsere nicht vorhandene und auf Sparsamkeit ausgerichtete Planung passte, und am Abend gingen wir noch das Zugticket für den nächsten Tag kaufen. Zu meinem Erstaunen und meiner großen Freude überließ mir Pietro dort abschließend noch seine am Nachmittag verdiente Gage, sodass ich aus Bologna mit mehr Geld abreiste, als ich angekommen war. Es war ein sehr schöner freundschaftlicher Moment, und seitdem bin ich ungebrochen optimistisch, Portugal doch zu erreichen.

Am nächsten Morgen fuhr mein Zug um 6 Uhr in der Dunkelheit ab, und als die Sonne aufging fuhr ich durch traumhafte Toskana-Landschaft. Bei dem einzigen Umstieg, den ich zu bewältigen hatte, stieg ich zuverlässig in den falschen Zug ein, ein Problem, das sich aber auch bald in Luft auflöste. Nach einem durch Knieschmerzen und schlechter öffentlicher Verkehrsinfrastruktur etwas qualvollen Aufenthalt in Siena kam ich schließlich, von meiner spanischen Gastmutter gefahren, auf dem Landgut an. Wie soll ich es beschreiben? Paradiesisch. Überall schöne Pflanzen, Oliven, Feigen, Kakis, Quitten, Bamboos, ein 5 monatiger Berner Sennenhund-Welpe, 3 Katzen, überall gemütliche Gartenmöbel, eine Hängematte, eine von Wein überragte Terrasse, etc. Die Familie bestand aus dem deutsch, italienisch und spanisch sprechendem Vater, der spanisch und italienisch sprechenden Mutter, und der deutsch, italienisch, englisch und spanisch sprechenden, hübschen, vergebenen Tochter. Wir vier lebten dort für die letzten 10 Tage zusammen, und jeden Tag kam irgendein Besuch, von Nachbarn, von Freunden, von AirBnB-Gästen, etc. In dieser Zeit hätte ich einen Blogpost schreiben können (einen hab ich auch geschrieben aber nicht veröffentlicht, da irgendwas dazwischenkam), aber letztendlich wäre es quatsch gewesen, da jeder Tag in meiner üblichen Art daraus bestand, viele kleine zwischenmenschliche Phänomene intensiv zu erleben, und diese in Real-Time im Internet zu veröffentlichen bietet sich nicht an. Deshalb hier ein gemütlicher Rückblick:

Meine Gastfamilie war sehr nett. Das ist ganz ehrlich gemeint und wichtig. Trotzdem war ihr Verhalten mir gegenüber der eine kleine Schatten, der über dem Aufenthalt lag, da sie, warum auch immer und es ist ihr gutes Recht, nicht besonders interessiert an mir und meinen Gedanken waren. Da ich aber viel denke, mitteilungsbedürftig bin, und sie am Anfang meine einzigen Bezugspersonen waren, war es doch etwas, mit dem ich immer wieder haderte. Zum Beispiel fragten sie bis zum Ende nie, warum ich eigentlich diese Reise mache, oder was ich bisher erlebt hätte. Ich erwähnte ein paar Mal, dass ich einen Blog schreibe, aber sie zeigten keinerlei Interesse daran, ihn jemals zu lesen, und bei dem Abschied heute morgen haben wir nicht mal irgendwie Kontakte ausgetauscht. Tja, interessante Erfahrung, von der ich auch etwas mitnehme ¯\_(ツ)_/¯ Die ersten drei Tage sog ich also all die schönen Eindrücke des Landlebens auf, und was das mangelnde Interesse anging blieb ich optimistisch. (In meiner ehrlichen Art sprach ich auch die Tochter an einem der ersten Abende direkt darauf an, ein Gespräch, das aber wirkungslos und wenig erhellend verpuffte.) Bald löste sich aber das Problem, da zwei Deutsche Paare hinzukamen, ein mit der Familie befreundetes Paar in meinem Alter, und zwei AirBnB-Gäste, die bei Potsdam auf einem selbst-sanierten Hof mit zwei Töchtern wohnen, und wir fünf hatten ein paar sehr schöne Abende zusammen. Zwei Dinge aus den Abenden erzähle ich: erstens habe ich dank Bert, dem Mann von dem Hof bei Potsdam und seines Zeichens Physiker, Strom verstanden! Volt, Ampere, Watt, Ohm, Sekunde, immer nur her damit, ich habe jetzt ein intuitives Verständnis davon, was mich sehr freut. Zweitens hatte ich ein Gespräch mit Sophie, der Frau aus dem mit der Familie befreundetem Paar, darüber, dass man Weisheit auf viele verschiedene Arten erlangen kann, in welchem ich sagte, dass ich zum Beispiel viel von meinem Basilikum lernen konnte, dessen Zucht diesen Sommer in München mein Hobby war. Da ich ihr nicht erzählt habe, was ich von ihm gelernt habe, und ich diese Erkenntnis für schön halte, teile ich sie hier: Also. Eine Pflanze bewegt sich ja seehr langsam. Nicht fürs Auge sichtbar. Und reagiert nicht auf Emotionen. Trotzdem ist sie ja aber doch ein Lebewesen, und somit erstens qualitativ unterschiedlich von Totem, und zweitens mit uns wohl in manchen Eigenarten verwandt. Also fragte ich mich: was unterscheidet einen Basilikum von einem toten Gegenstand? Denn es gibt ja auch tote Gegenstände die sich bewegen und wachsen, zum Beispiel ein Boot, das sich im Hafen liegend im Wind bewegt, ein Roboter, der sich unglaublich lebensecht bewegt und eigenständig Probleme löst, oder irgendeine spektakuläre chemische Reaktion. Die Antwort auf diese Frage ist die Erkenntnis, auf die ich hinauswill: man weiß letztendlich nicht, was der Basilikum in den nächsten Tagen machen wird. Mal hat ein Stängel zwei Blätter, mal drei, mal eins. Mal ist das Blatt groß, mal klein, mal asymmetrisch. Nobody knows. Er ist ein Individuum. Diese Erkenntnis wird noch dadurch erschwert, dass man, wenn man sich darüber informiert, sehr gut weiß, wo man ihn abschneiden muss, damit er gedeiht und so und so reagiert. Auch Gießen und Düngen haben erwartbare Folgen. Aber so sehr man es ahnen kann, das letzte Ereignis bleibt ein Geheimnis und eine Überraschung. Jeder Basilikum ist ein eigenes Individuum, und so sind wir Menschen, und das ist das kostbare an uns, was uns von Totem unterscheidet, und eine Philosophie wie Hundertwassers lässt sich direkt durch die kleinste Pflanze in der eigenen Wohnung in ihrer Gänze begreifen. Wenn das Kostbare an uns, diese Einzigartigkeit, in jedem Lebewesen gleich ist, führt das auch direkt zur Antwort auf die Frage, wie wir miteinander umgehen sollten. Von einem kleinen Blättchen einer Pflanze kann man also eigentlich alles Wesentliche lernen. Dum-Dum-Bisch, Ende der Ausführung.

Nachdem das eine Paar vorvorgestern, das andere vorgestern, abgefahren waren, wurde unabhängig davon gleichzeitig klar, dass ich am Freitag, also heute, abfahren würde. Ich sah gelassen den letzten zwei Tagen entgegen, als es vorgestern Abend plötzlich hieß, dass spontan zwei junge Reisende bei uns übernachten und am nächsten Tag bei der Ernte helfen würde. Zwei 21-jährige Vögel wie ich, auf dem Weg nach Indien, zu Fuß und mit Autostop. Sehr schöne, berührende gemeinsame Zeit zusammen (hey, ich hab ihnen sogar auf ihren Wunsch 30-Minuten Wagner vorspielen können!). Unsere tiefsten Einsichten haben wir miteinander geteilt und uns darin getroffen, ohne in unverständliche Mystik abzudriften. Die Verabschiedung heute morgen war entsprechend herzlich, und ich freue mich darauf, mit ihnen in Kontakt zu bleiben.

Heute bin ich dann losgefahren, und es hat zum ersten Mal seit Slowenien geregnet. Alle Tage davor, bei der Ernte, war ich im T-Shirt unterwegs, und beim Mittagessen haben wir uns immer in den Schatten gesetzt, da es in der Sonne zu warm war. Mit den Knien ging es heute gut! Ich mache aber natürlich nicht den Fehler zu glauben, dass es irgendwie ausgestanden ist. Die Pause hat ihnen auf jeden Fall sehr gut getan. Ich bin einfach dankbar für jeden Moment, wo sie mitmachen. Jetzt habe ich wieder mal viele Möglichkeiten: ich fahre erstmal im Flachen nach Pisa und Livorno. Von da aus kann ich entweder über die Berge nach Südfrankreich trampen, oder ich finde doch eine Strecke, die nicht allzu sehr auf und ab geht, und fahre mit dem Fahrrad. Oder ich fahre mit einer Fähre nach Sardinien, und dann nach ein bisschen Radfahren dort mit einer weiteren Fähre nach Barcelona. Oder irgendein anderer Plan taucht auf, mal sehen.

So, das also die Zusammenfassung der letzten Tage. Abgesehen davon ist noch viel anderes passiert, das ich noch gar nicht erwähnt habe: zum Beispiel hatte ich an einem Nachmittag ein tiefgreifendes Erlebnis, als ich ein großes Feuer gemacht habe, und ich in einem sehr intensiven Flow-Gefühl war. Da ich Berge von Holz verbrennen musste, und gleichzeitig das Feuer nicht zu groß machen konnte, weil in der Nähe Pflanzen waren, fühlte sich dieser Balanceakt, zusammen mit den immer wiederkehrenden Stufen des Feuers, an, wie ich mir Wellensurfen vorstelle. Das war einer der Höhepunkte meines Lebens, wenn man so will. Außerdem und überhaupt war die schönste Geschichte dieser ganzen Zeit meine Beziehung zu und Erlebnisse mit der 8-jährigen Nachbarstochter Livia, die ich aber nächstes Mal erzählen muss. Ihr seht also, diese Reise entwickelt sich zu einem echtem, allumfassenden Feuerwerk. Von diesem Feuerwerk fallen dann immer wieder Funken nach unten bis auf die Tastatur. So etwa ist das mit dem Schreiben 🙂 Ich wünsche zum Schluss all denen, die mir bisher geholfen haben, und die ich in der letzten Zeit kennengelernt habe, und all den Lesern zu Hause, eine gute Zeit ✌️

Fragile Mystik, Gastfreundschaft, italienische Unschuld

Die Tage seit dem letzten Eintrag waren sehr abwechslungsreich, und oft dachte ich mir: „Das hättest du dir aber vor drei Stunden auch nicht träumen lassen, dass du jetzt hier sitzt!“ Zum Beispiel als ich mich auf einmal in voller Montur in einem Hallenbad – Chlorgeruch, warm – wiederfand und Perlentauchern dabei zusah, wie sie tief unterm Wasser ohne aufzutauchen ihre Bahnen schwammen. Das alles mit einem „Hakuna Matata“ auf Repeat in meinen Kopfhörern.

Auch ist es weiterhin ein Feuerwerk an kleinen Sinneswahrnehmungen. Gerade sitze ich zum Beispiel wieder in einem Café, das auch eine Cocktailbar ist, und der Mann bugsiert mit einem seltsamen Teleskopgreifarm ganz vorsichtig Flaschen auf ein drei Meter hohes Regal. Wieder ein kleiner Eindruck. Zwei Geschichten sind aber besonders schön, eigentlich drei, puh, die ich ausführlich zu erzählen versuchen werde. Zur Orientierung: meinen Knien geht es die ganze Zeit so mittelgut, und deshalb bin ich hier durch verschiedene Städte der Emilia-Romana gefahren, immer wieder dort geblieben, dann mal wieder 12km oder so gefahren, etc. Forlí, Faenza, Imola, jetzt Bologna.

Ich mach das jetzt ganz gewieft: zuerst erzähle ich eine ziemlich absurde Geschichte, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, dann eine etwas unspektakuläre, aber doch auch tiefsinnige Geschichte, und am Ende etwas ganz schönes.

Zuerst also die Absurde: Als ich in Bologna ankam setzte ich mich in ein Café und kam mit einem jungen Paar (er 28, sie 22) ins Gespräch. Letztlich habe ich den ganzen Nachmittag bis 23 Uhr mit ihnen verbracht, da ich auf meinen tollen Gastgeber und Freund hier in Bologna wartete. Wie es so ist, wenn sich zwei solche Menschen treffen, habe ich mit diesem Mann nach zwei Minuten über den Sinn des Lebens und die gegenseitigen philosophischen Biographien gesprochen. Das heißt, er hat meistens geredet und ich habe Fragen gestellt und zugehört. (Ich finde das etwas magisches, wie zielsicher zwei Menschen, die philosophische Fragen mit sich tragen, auch bald im Gespräch dazu finden. Oder wenn zwei Wagner-Fans sich treffen dauert es nur vier Sätze, und schon ist man von jedem beliebigen Ausgangspunkt schnurstracks bei Wagner angelangt.) Er war mir nicht sonderlich sympathisch, aber es war ganz interessant, ich hatte nichts anderes zu tun und er war offensichtlich so harmlos wie ein Lamm. Schnell wurde mir klar, dass er etwas special ist, das heißt, er war die letzten Jahre jeden Sommer in der Psychiatrie gewesen, und hat bald extrem intensiv von Rudolph Steiner und den Theosophen geredet, da war das Gespräch vielleicht 10 Minuten alt. Er hat sehr mystisch geredet, völlig die Grenzen der Sprache sprengend. Also das ist mir bei ihm ganz klar geworden, dass die Sprache für so eine Mystik fast völlig unbrauchbar ist und man eigentlich nur noch in Paradoxen reden kann. Auch muss man sich ständig selber widersprechen, wenn man mal aus Versehen einen Satz gesagt hat, der nicht paradox, sondern klar ist. Immer wieder dachte ich sein Weltbild verstanden zu haben, bis er mir heftig widersprach und wieder einen krassen Monolog startete. Oft hat er mir rhetorische Fragen gestellt, und diese Fragen immer intensiver wiederholt, bis es fast schrie, sie dann selber beantwortet, wieder etwas gefragt, Tränen in den Augen, etc. Ich war während seinen Ausführungen emotional völlig ruhig und unberührt. Ruhige „Ahja“s habe ich meistens geantwortet und dachte mir, dass ich vielleicht doch den einen oder anderen interessanten Gedanken von ihm mitnehmen könne. Um nur ein Beispiel zu geben, einmal meinte er, sobald man aufhöre zu zappeln sei man Buddha; sobald man körperlich ruhig sei, sei man auch geistig ruhig (wobei er mir hier sicherlich völlig widersprechen würde, da er einen riesigen Unterschied zwischen Körper, Geist und Seele machte, und zwischen Jesus und Christus, und Buddha sei die Seele von Jesus, und Zarathustra der Geist von Christus oder andersrum. An dieser Stelle hätte er mir bestimmt ganz tief in die Augen geschaut und gesagt: Du bist Buddha, glaubst du mir das? Glaubst du mir das? Um dann, auf dem Höhepunkt der Spannung, ganz erschöpft zu sagen: Wir alle sind Buddha, jeder.). Nungut, also es geht stundenlang so weiter, immer wieder wurde natürlich auch über nicht-philosophisches gesprochen, da er von seinen eigenen Reden ganz erschöpft war (sodass ich mich dann sehr nett mit seiner Freundin unterhalten konnte) und am Ende des Abends fragt er mich: „Was denkst eigentlich du? Wenn du ein Fisch wärst, was ist dein Wasser, wenn du ein Vogel wärst, was ist dein Wind, wenn du ein etc. etc. etc.?“ Und ich freue mich, denn zum ersten Mal interessiert er sich für mein Weltbild, beziehungsweise zum ersten Mal bittet er mich, selber meine Gedanken auszuführen statt nur auf ihn zu reagieren. Ich fange also kurz an, sage zwei Sätze, und er stimmt mir zu, ich sage noch einen Satz, er hakt ein, nach dem Motto: „Da muss man aber aufpassen, nicht das und das zu vergessen“. Ich antworte: „Ja, das stimmt, ich vergesse das auch nicht, denn (…)“. Und was sagt er, ganz aufgebracht und sich von mir abwendend? „Genug! Genug! Das reicht!“ und beendet unser Gespräch, und eine Minute später haben wir uns verabschiedet.

Sehr beeindruckendes Erlebnis. Stundenlang hatte er echt klug geredet, und ich dachte mir noch „Wow, so jemand muss regelmäßig in die Psychiatrie, dabei hat er manche Dinge vielleicht besser verstanden als wir alle zusammen“, denn oft klang es echt nach Siddartha im Endstadium. Aber seine letzte Reaktion hat mich sehr enttäuscht: nach etwa fünf harmlosen Sätzen von mir war er schon so emotional überfordert, dass er diese Impulse nicht mehr aushielt und die Flucht suchte.

So, nun eine Geschichte über zwei Bauernhöfe: Als ich abends durch die Felder zwischen Forlì und Faenza gefahren bin, musste ich einen Bauern fragen, ob ich mein Zelt aufstellen darf, denn auf so bestellten Feldern kann man ja doch nicht einfach wild zelten und gemütlich das Kochen anfangen. Mein Ziel beim Wildzelten ist ja, einen vollkommen entspannten Ort zu finden; ich suche also entweder einen Ort, an dem mich niemand sieht, oder stelle mich mit den Menschen gut, die mich sehen. Ich frage also eine alte Frau, sehr ordentlich, gepflegtes Haus, ob ich auf der Wiese neben ihr zelten kann. Sie windet sich: „Oh, ich kenne den Patron nicht“ und so weiter. Ich winde mich auch. Irgendwann bietet sie mir Wasser an, und als alle meine Flaschen gefüllt sind auch noch Äpfel. Dass ich in ihrem riesigen Garten schlafen könnte, auf diese Idee kommt sie nicht. Ich könnte bei einer Kirche fragen uns so weiter, sagt sie mehrmals. Ich bin mir sicher, dass ihr das einfach nicht in den Kopf kam, was ich ganz interessant finde, wie weit Menschen sich von so einer eigentlich naheliegenden, unmittelbaren Hilfsbereitschaft entfernen können. Ich fahre also weiter und komme paar hundert Meter weiter an einen heruntergekommenen Bauernhof, dessen Anwesen mehr an einen Schrottplatz erinnert, und denke mir: Perfekt, die werden es mir nicht abschlagen. Als ich die Frau anspreche, fragt sie mich: „Bist du von der Polizei?“ was ja absurd ist, und mein Lachen macht dann auch schnell klar, wie wenig Wachtmeister ich bin. Wenn ich mir aber überlege, dass ich lauter blaue Taschen, eine blaue Fleecejacke und einen blauen Helm aufhatte, ist es vielleicht etwas verständlicher. Nungut, ich darf dort nicht nur zelten, sondern werde sogar ins Gästezimmer eingeladen, esse mit der ganzen Familie lecker zu Abend, und die ganze Familiengeschichte wird mir unter Aufbietung aller verfügbaren Emotionen erzählt, ohne dass ich auch nur ein Wort davon verstehe. (Überhaupt ist das eine Beobachtung von mir auf dieser Reise: wenn ich mit Leuten rede, erzählen sie ständig von sich selber. Mal sehr, mal weniger interessant. Aber dann denke ich mir schon manchmal: Leute, ist ja echt nett, dass ihr soviel erzählt, aber meint ihr nicht, ich, zumal in meiner aktuellen Situation, habe auch etwas zu erzählen? Meistens sage ich nicht mehr als woher ich bin und wohin ich gehe, und den Rest des Gesprächs reden sie. Und ich spreche hier von Unterhaltungen auf Englisch, also der Grund ist nicht, dass ich wenig italienisch kann.)

Also das war ein krasser Unterschied. Diese erste Frau, bei der alles schön scheint, kommt nicht auf die Idee, mir zu helfen, sondern verweist auf andere (hier die Kirche). Die zweite Familie war, um es vorsichtig auszudrücken, eine echte Lasterhöhle (sie hatten natürlich nicht grundlos gefragt, ob ich von der Polizei bin), und waren offensichtlich wie Ausgestoßene, deren Grundstück niemand betreten und mit denen niemand Kontakt haben will, ein bisschen wie die Cletus-Familie bei den Simpsons. Die waren hingegen so nett und herzlich, sie hätten mir wirklich ihr letztes Hemd gegeben, und ob die Frau mir herzlich einen Schmatzer auf die Backe gedrückt hat, weiß ich nicht mehr, aber es hätte in die Stimmung gepasst. Das Thema dieser Geschichte ist wohl Gastfreundschaft, ein, wie Erich Fromm sagen würde, stolzes Wort.

Die letzte Geschichte ist die schönste: ich kam nach Faenza, und setzte mich in einen Park und suchte nach Couchsurfern. Auf der Website fand ich eine junge Frau, die sich als fröhlich und Geigerin beschrieb, und so schrieb ich sie, von Musiker zu Musiker, an. Sie rief sofort zurück und sagte, von ihr aus sei es kein Problem, sie wohne aber erst seit drei Tagen in der WG und deshalb müsse sie erst ihre Mitbewohnerin fragen. Das könne sich noch ein paar Stunden hinziehen, aber auf alle Fälle könne man sich in einem Cafe treffen. Kein Problem, sagte ich, ich warte hier einfach im Park und koche mir in der Zwischenzeit Pasta. Ich habe Zeit und Geduld. Da kam mir dann eine schöne Idee: ich könnte sie doch auf einen Kaffee zu mir einladen, in den Park, und dann kam sie auch, und es war eine sehr schöne Situation: ich, der Fremde, lade sie, die Einheimische, auf meine Isomatte ein, auf einen mit dem Campingkocher gekochten Kaffee. Man muss bedenken, dass es überhaupt noch nicht klar war, dass ich dort schlafen können würde, und ich stellte mir vor, wie cool es wäre, wenn ich in die Stadt komme, eine Einheimische einlade – ich ihr sozusagen Gastfreundschaft erweise – und dann weiter fahre und man sich nie wieder sieht. Es war ein sehr nettes Treffen. Schnell wurde ich von ihr auf eine große Party am nächsten Abend eingeladen, sodass ich schließlich drei Tage in Faenza bei ihr blieb. Und diese Party, meine deutschen Freunde, war… im Englischen sagt man: This party was… something else. Also sie war so italienisch, wie man es sich nur vorstellen kann. Sie fand in dem Landhaus der Eltern meiner Gastgeberin statt, die dort früher in einer Kommune gelebt hatten, und es war paradiesisch: den Weg zum Haus säumten lauter uralte, verdreht verwachsene Olivenbäume, es gab Zypressen, der Blick auf Täler und Berge, es gab zig Zimmer, es gab außen überdacht eine lange massive Holztafel, es gab eine Küche mit großen Geräten aus der Gastronomie, einen großen Pizza-Ofen, es war ein lauer Sommerabend, wir haben stundenlang zusammen Musik gemacht, Gesang mit 3 Gitarren, Geige, Akkordeon, spontaner Percussion auf Alltagsgegenständen, und es gab ein herrliches Abendessen, Pasta mit Trüffeln, dann Pasta mit Hackfleisch, dann Ofenkartoffeln mit anderem Fleisch und Rosmarin, und dann Mascarpone mit so Bratäpfeln… Also, die Italiener, und Giulia im speziellen, wissen wie man schön feiert. Zwei Dinge aber verdienen besondere Erwähnung, weil sie eben ganz unterschiedlich zu deutschen Feiern waren: erstens die Lautstärke der Gäste (es waren vielleicht 80 zum Höhepunkt, aber meistens saß man in kleineren Gruppen zusammen). Also die lieben Leute waren dermaßen laut und extrovertiert, dass sie auf eine fast schon erschreckende Weise dem Klischee entsprachen. Zum Beispiel hörte man am Anfang ein unglaubliches Männer-Geschrei aus der Küche, minutenlang. Wie Wahnsinnige. (Die Festgesellschaft reagierte, in dem sie aus vollem Leib lachend zurück in Richtung Küche schrie.) Was war passiert? Ein paar Männer kochten dort, und hatten wohl so „Stationen“ in der Küche (Schnibbeln, Rühren, Waschen…), und in einem sehr schnellen Rhythmus wurden die Stationen im Uhrzeigersinn durchgewechselt, sodass es ein völliges Drunter-und-Drüber, ein Lachen, und ein Schreien war. Echt cool! Aber auf einer deutschen Studentenparty habe ich das noch nicht erlebt, soviel Extrovertiertheit den ganzen Abend! Der zweite und größte Unterschied war die Musik, die im Tanzraum lief. Da ich als Jugendlicher auf vielen Hochzeiten gekellnert habe, kann ich sagen: es lief eine Musik, die so unschuldig, wohlklingend und schmalzig war, wie in Deutschland zu schmalziger, später Stunde bei Hochzeiten. Das war ganz verblüffend. Romantische Evergreens, international und viel italienisch, liefen den ganzen Abend und den nächsten Morgen. Unschuldig ist das Wort, das es am besten beschreibt. Einfach überhaupt nicht so „abgefuckt“ wie deutsche Partymusik. So viele angenehme Melodien und Harmonien, dass deutsche zeitgenössische Partymusik dagegen wie Zwölftonmusik wirkt. Sehr interessant.

Was ich nicht zu erwähnen brauche ist, dass die Hauptsache, alles menschliche und zwischenmenschliche, auf dieser Party natürlich exakt identisch zu deutschen Partys war: die Charaktere, die Beziehungen, die Probleme und Sorgen, die Stimmungen. Offensichtlich machen diese wunderschöne Landschaft und das fantastische Essen, sogar die wohlklingende Musik, die Menschen kein kleines bisschen glücklicher; sie sind einfach daran genauso gewöhnt wie wir an unsere Kultur.

Nun, das also drei Geschichten aus der letzten Woche. Wie es weiter geht mit meinen Knien und der Reise, ist, wie es sich für eine ordentliche Zukunft gehört, ungewiss.

Der Reise zweiter Teil

Gerade wollte ich mich in einem Park zu einer Siesta hinlegen, als mir so viele Gedanken durch den Kopf gewirbelt sind, dass ich den Siesta-Plan fallen gelassen habe und in ein Cafe gegangen bin um zu schreiben. Nicht der einzige Plan, den ich in den letzten Tagen fallen lassen musste. Die Tour hat seit dem letzten Blogpost völlig ihren Charakter verändert, und so viel ist passiert, dass ich jetzt vor der Herausforderung stehe, das alles überblicksartig und trotzdem interessant aufzuschreiben.

Von dem Bio-Campingplatz bin ich am nächsten Morgen losgefahren mit der Idee, an diesem Tag direkt von Meer weg in die Apenninen zu fahren. Das passierte dann auch, und es war ein ganz witziger Radltag, da mich der Radweg oft abseits von jeglicher Straße durchs Gras hat fahren lassen. Da ich in ein sehr abgeschiedenes Tal fahren wollte, habe ich mich noch in der Stadt davor mit Proviant für mehrere Tage versorgt: 1,5kg Nudeln, 1,6kg Dosentomaten, 1L rosa Spiritus, Speck, Äpfel, zusätzliche 500gr Haferflocken. Zum Glück, wie sich bald herausstellen sollte. Damit fuhr ich in das Tal, die Sonne ging unter, und ich dachte mir noch (das ist wirklich so bitter, genau das dachte ich mir noch): „Ha, dass du neulich morgens wegen deinen Knien optimistisch warst, war kein Fehler: sie machen wirklich keinerlei Probleme mehr!“ Ich suchte also an der Straße durchs Tal einen Zeltplatz, und nach einer Zeit sah ich einen kleinen Hügel, der perfekt geeignet aussah, und es führte eine kleine steile Straße hinauf, das konnte ich erkennen. Also strampelte ich mich am Ende des Tages eine vielleicht 250m lange Straße hoch, die ultra steil war, ich würde sagen über 20%, denn ich musste stehen, im ersten Gang, und trotzdem ging es sehr schwer. Es waren irgendwie so spontane 5 Auspower-Minuten, bis ich oben war, wie man sie halt manchmal im Leben hat: man muss einen schweren Koffer in den dritten Stock schleppen, oder plötzlich schnell zum Bahnhof rennen… so unvermittelte, schnell vergehende Minuten der Höchstanstrengung. So, und oben angekommen begann dann der zweite Teil der Reise 😃 denn ich merkte leider sofort nach dem Absteigen: „Oh oh, das war wohl keine gute Idee, meine Knie fühlen sich sehr erregt an, heiß, wie als würden sie leuchten.“ Oh Mann, das war echt blöd, dieser Moment! Ich habe mir dann ein Abendessen gekocht, habe die vorletzte Diclofenac-Tablette genommen, und bin ins Bett. Nachts konnte ich kaum schlafen, so stark habe ich meine Beine gespürt. (Das hatte ich jetzt zum zweiten Mal im Leben, dass man nicht schlafen kann, weil die Beine so müde sind. Das ist eine lustige Form des Nicht-Schlafen-Könnens.) Naja, in dieser Nacht habe ich mir viele Gedanken gemacht, zum Beispiel: „Stell die vor, die Knie haben sich entzündet, und du kannst jetzt nicht mehr Fahrrad fahren, nur wegen diesem einen blöden kleinen Hügel, deinem Schicksalsberg!“ Viele Gedanken, wie von einem Geläuterten, der auf seine vergangenen Fehler starrt. Übrigens meine ich diesen Gedanken vom „Schicksalsberg“ oder überhaupt, dass dieses Hügel-Erklimmen ein Fehler war, mittlerweile als falsch erkannt zu haben: so, wie es mir scheint, hätten meine Knie, wenn nicht an diesem Abend, dann am nächsten Tag am Pass irgendwann zu streiken begonnen. In der Nacht beschloss ich schon, auf diesem Hügel einen Pausetag einzulegen, um die Knie zu beruhigen. Bald am nächsten Tag entschied ich mich dafür, sogar zwei Pausetage dort zu machen, „um auf Nummer sicher zu gehen“, wie ich dachte. Diese zwei Tage auf dem Hügel waren sehr schön. Ich habe mich, da ich es auch dort zu Ende las, ein bisschen wie Robinson Crusoe gefühlt, da ich zwar nicht auf einer Insel, aber doch auf einem Hügel gestrandet war, von dem ich wegen meiner Knie nicht mehr runterkam. Außerdem hatte ich wie er einen „Proviant“, mit dem ich haushalten musste, und ein „Basislager“, das immer elaborierter wurde… Dreimal ging ich paar hundert Meter zu einem Haus Wasser holen, und einmal kam ein junger Mann vorbei, der mich gesehen hatte, und schenkte mir Wasser und Rotwein, was eine ziemlich schöne Überraschung war. Also diese Tage habe ich viel gelesen, viel geschwitzt, da es sehr heiß war und ist, viel geschnitzt, was eine sehr schöne kreative und ruhige Aktivität ist, und die Landschaft war schön. Ich konnte mich nicht beschweren, und ich habe mich auch nicht beschwert. Die Knie wurden langsam immer besser.

Am dritten Morgen auf dem Hügel packte ich langsam meine Sachen ein und wollte eine kurze Etappe machen. Aber schon nach 7km, im nächsten Dorf, musste ich wieder aufhören, da es mit den Knien überhaupt nicht ging. Sie juckten sehr, sie sind einfach gerade sehr gereizt. Mmmmhh, dann dachte ich mir: „Ok, hier ist es schonmal besser als auf dem Hügel: hier gibt es einen Bankomaten, einen Supermarkt, einen Fluss, einen schönen öffentlichen Park mit Bänken, und ein Cafe.“ Außerdem habe ich an einem Olivenhain schöne Stücke Olivenholz zum Schnitzen gefunden. Man kann sich das so vorstellen: mein Holz von dem Hügel zu schnitzen fühlte sich an wie wenn man trockenes Krustenbrot schneidet, das Olivenholz fühlt sich an wie harte Butter aus dem Kühlschrank. Am Abend dann, gestern, hatte ich aber eine Erleuchtung, da es mit den Knien nicht besser wurde, und auch die Gesellschaft in dem Dorf nicht so cool war: ein paar etwas stumpfsinnige, verwahrloste alte Männer (Thomas Bernhard hat recht: es ist besser, man kennt die Landessprache nicht und kann sich einbilden, dass die alten Männer alle über wichtige philosophische Probleme diskutieren. Wenn man es versteht, oder sie mit einem reden anfangen, merkt man schnell, dass das weit weg von der Wahrheit ist.) Die Erleuchtung war: es bringt nichts, Tag für Tag dazusitzen und den leisesten Botschaften aus den Knien zu lauschen. Ich sollte aufhören, in Pausetagen zu denken, und anfangen, in Pausewochen zu denken. Ich muss eine Beschäftigung finden, die mich von den Knien ablenkt, sodass ich sie vergesse, und irgendwann dann fahre ich weiter. Das war gestern Abend, und in den letzten 24h ist dann viel passiert.

Ich schaute auf die Karte: in welcher Stadt in der Nähe kenne ich jemanden? Ich kenne aus Bologna, 70km Luftlinie von meinem gestrigen Ort, ein paar Leute von einer Orchesterreise von vor zweieinhalb Jahren. Diese 6 Facebook-Freunde schrieb ich dann ganz euphorisch an (wiedermal eine Situation in der Facebook Dinge möglich macht), und da ich es so schwungvoll geschrieben hatte, dachte ich, dass ich auch sofort unterstützende Antworten bekomme. Die… kamen… aber… nicht… 6 Leute hatte ich angeschrieben, zwei schrieben, dass sie dort nicht mehr wohnen, eine schrieb, dass sie gerade schon jemand anders beherbergt, zwei lasen es, ohne etwas zu schreiben, und einer las es nicht. Meh. Ich ging, als es kalt und dunkel wurde, zum Fluss, an dessen Ufer ich mein Zelt aufbaute, und irgendwann hörte ich mich denken: „Es kann doch nicht so schwer sein, irgendwo für Kost und Logis zu arbeiten!“ Das heißt: diesen Gedanken hatte ich in den letzten Tagen oft, aber ich wusste, ich könnte nicht große körperliche Arbeit machen, wegen den Knien. Aber als ich mir das beim Zeltaufbauen dachte, kam mir: „Woofen! Oh Mann! Das ist perfekt jetzt!“ Woofen ist so bei einem Biobauernhof mitarbeiten, und dafür Essen, Gemeinschaft und einen Schlafplatz zu bekommen. Ich konnte kaum erwarten, mit dem Zelt fertig zu sein, um dann das zu googlen. Ich fand auch bei Woofen-Italia gleich einen Bauernhof in meinem Tal! Nur die Adresse stand nicht dabei, dafür muss man Mitglied sein. Mit diesen Gedanken schlief ich unruhig ein, und wachte schon nach 6 Stunden wieder auf. Am nächsten morgen, also heute, ging ich wieder in den Park, und wollte das organisieren: wiederwillig wurde ich für 35€ WOOF-ITALIA Mitglied, um an diese Adressen zu kommen. Ich dachte mir, wenn ich auf so einem Bauernhof einen Monat bleibe, hat es sich locker gerechnet, und die Erfahrungen sind ja sowieso unbezahlbar. Trotzdem sind 35€ blöd, denn mit jedem Euro, den ich weniger habe, rückt auch das Ende, wann auch immer es sein wird, näher. Als ich auf die Bestätigung (und somit auf die Adressen) wartete, schrieb ich meinen Bologneser Freunden sozusagen: „War wohl nix, trotzdem alles Gute und bis zum nächsten Mal!“ Da meldete sich der eine, der es gelesen und nichts geantwortet hatte, mit einem knappen: „From next week should be no problem. I’m still in Bologna.“ Cool, jetzt hatte ich also zwei Möglichkeiten: Woofen, wenn es so spontan klappt, oder nach Bologna! Dann kam die Adresse, und der Bauernhof war 10km entfernt. Ich wollte nicht dorthin Fahrradfahren, da ich meine Knie schonen wollte, und es gab einen Bus dorthin, also wartete ich zwei Stunden, von 10 bis 12, auf ihn. Ich fragte noch eine Frau, ob die Busse Fahrräder mitnehmen, und sie sagte, es geht. Aber ich fragte mich schon beim Gespräch, ob die Frau vielleicht eine geistige Behinderung hat, und ob sie das alles versteht. Der Bus kam endlich, und es war ein kleiner Reisebus, in den kein Fahrrad passte. Mmmmhhh. Also stieg ich doch aufs Fahrrad, und als ein kleiner Polizei-Jeep an mir vorbeifuhr, streckte ich, ohne viel nachzudenken, meinen Daumen raus, also das Tramp-Zeichen. Sie blieben stehen, und waren über-hilfsbereit, und haben mir meine Taschen ins nächste Dorf gebracht, und ich bin ohne Taschen mit dem Fahrrad nachgekommen. Ahja, hier ist ein Gedanke wichtig: ich wollte nicht bei dem Bauernhof vorher anrufen, sondern dachte mir, es ist cooler, wenn ich mit meinem fetten Berg von Reiserad müde mit kaputten Knien vor ihnen stehe, dann können sie es mir ja nicht ablehnen. Dieser Gedanke ist der Grund, warum ich in das Dorf gefahren bin, ohne dort anzurufen. Dort wollten die Polizisten aber nicht von mir lassen, und mir weiter helfen. Wohin ich wolle. Ich zeigte ihnen die Adresse auf dem Handy. Der Polizist telefonierte, und ich dachte, er ruft die Zentrale an, ob sie ihm sagen können, wo das ist, da er es nicht kennt. Er aber, das erfuhr ich erst danach, hatte den Bauernhof angerufen! Das hat meinen Plan natürlich völlig versaut: statt dem Anblick eines heroischen Weltenbummlers ein Anruf von der Polizei… Oh Mann, naja. Also der Bauer meinte: „Nein, wir bieten keine Übernachtungen.“ Die Polizisten verließen mich mit dem Auftrag, an dieser Stelle auf ihren Kollegen zu warten, der in 40 Minuten käme. Da saß ich also, und dachte nach. Die erste Woofing-Idee war gescheitert. Vielleicht sollte ich doch erstmal nach Bologna? Da hatte ich den nächsten Gedanken: Couchsurfing! Ich kann aus dem Tal raustrempen, dann dort Couchsurfen, und dann entweder Woofen oder nach Bologna. Ich schrieb gleich mal zwei nett aussehende Couchsurfer am Ende des Tals, in Forlì an, und dann kam der Polizist, ein super netter Mensch, der mich in seinem privaten Kleinwagen (wie ein Polo, nicht wie ein Golf) samt meines Fahrrads und des Gepäcks (!) dorthin fuhr. Er hatte einen interessanten Job, denn er war nicht normaler Polizist, sondern sozusagen Ranger oder Wildschützer oder wie man das nennt. Er jagt illegale Jäger. Auch Leute, die wild zelten 😉 der war sehr nett, hatte coole Geschichten zu erzählen, und konnte gut Englisch. Im Auto kam dann auch eine Antwort von Couchsurfing, dass mich ein Student (der selber als Profilbild ein Radreise-Bild hat) für die Nacht aufnimmt, vielleicht länger. Ich kam hungrig in dieser Stadt an, aß eine Pizza, und jetzt wollte ich eben Siesta machen, und stattdessen habe ich das hier geschrieben. Mit dem Student treffe ich mich gleich, wenn seine Uni aus ist.

Puh, also eine verrückte Wendung der Reise. Die Knie verhindern mir vorerst das Fahrradfahren. Vielleicht für eine Woche, vielleicht für zwei, vielleicht für einen Monat, vielleicht für 3. Vielleicht finde ich doch noch einen Woofer-Bauernhof, der mich spontan nimmt, vielleicht fahre ich nach Bologna zu den Freunden. Vielleicht Couchsurfe ich ein bisschen, und fahre dann im Flachen weiter Fahrrad, um die Apenninen herum. Viele Optionen, stündliche Wendungen. Mal sehen wie es weitergeht.

PS: Bevor ich gutgemeinte Hinweise bekomme, dass ich die Einstellung meines Sattels überprüfen sollte: da passt alles, den habe ich mühsam und perfekt vor der Reise eingestellt. Ich hatte die Knieprobleme auch zuerst schon beim Wandern. Sie scheinen einfach das schwächste Glied meines adonischen Körpers zu sein. Es ist nur für mich unglaublich schwer, da die Belastungsgrenze zu erahnen, denn zum Beispiel bei Muskeln spürt man ja, wie sie müder werden. Aber Knie spürt man überhaupt nicht, bis es auf einmal zu spät ist. Wie, wenn man gegen eine unsichtbare Litfaßsäule laufen würde. Knie… Antoine de Saint-Exupéry würde sagen: „Knie… sie sind ein großes Geheimnis.“ Goethe würde sagen: „Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen: ihr durchstudiert die groß‘ und kleine Welt, um es am Ende gehn zu lassen, wie’s Gott gefällt.“ Buddha würde sagen: „Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft. Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment.“ There we go.

Livias Geschichte

Was für ein schöner gemütlicher Tag. Ich bin in Viareggio und couchsurfe bei Simone, bevor es morgen in Richtung Genova weitergeht. Eigentlich dachte ich, dass ich noch keinen Pausetag brauche, da ich ja erst am Freitag wieder losgefahren bin. Seit Freitag hat es aber, teilweise sintflutartig, geregnet, sodass ich schon gestern wieder am Ende meiner Kräfte war. Zum Regen kam hinzu, dass ich den Olivenernte-Bauernhof komplett planlos verlassen hatte, und deshalb meine Kleidung dreckig und die Akkus meiner diversen Geräte und Powerbanks schon leer waren, als ich losfuhr. Und mit dem Regen funktionieren meine Solarpanele viel schlechter. Auch gesundheitlich habe ich mich, wahrscheinlich wegen des Wetterumschwungs (hier ist es jetzt statt 23 Grad nur noch 14), angeschlagen gefühlt. Um diese schwierige Zeit zu krönen ist mir dann noch in der Nacht auf gestern eine 1.5 Liter Flasche Wasser, die ich im Schlaf nicht wieder richtig zugemacht habe, fast völlig ins Zelt ausgelaufen. Warum ist denn der Schlafsack an meinen Füßen nass, fragte ich mich. Das scheint ja vom Atem/Tau heute Nacht besonders nass zu sein, dachte ich mir. Und als ich meine Füße bewege höre ich es im Zelt richtig plätschern, da sich am Fußende wegen der Hangneigung das Wasser schön im Zelt gesammelt hatte. Tja.

Also, heute deshalb ein Pausetag um meine Sachen zu trocknen, und sich zu erholen. So habe ich fast den ganzen heutigen Tag im warmen, trockenen Bett gelegen und mich regeneriert.

Ich wohne hier bei einem sehr netten, schwulen, professionellen Koch (hier dieser See, Lago di Puccini, an dem Giacomo Puccini gewohnt hat, ist eine Schwulenhochburg, da in den Anfängen des Internets hier jemand die Domain www.gay.it ergattert hat 😃), der auf Luxusyachten für Madonna, die Beckhams und vor allem die Dolce&Gabbana-Brüder gekocht hat, die seine Arbeitgeber waren. Die Geschichten, die er aus dieser VIP Welt erzählt hat, sind komplett absurd: jeden Tag wird zum Beispiel die ganze Riesenyacht geputzt, also komplett gestaubsaugt, auch unter den Sofas und die Vasen und Skulpturen abgestaubt etc., obwohl die Besitzer sie sicher mehrere Monate nicht benutzen werden. Jeden Tag. Und für diese Crew, die auch im Winter die sinnlose Arbeit durchführt, jeden Tag eine komplett saubere Yacht nochmal zu putzen, zahlen sie etwa hunderttausend Euro im Monat. Und die Crew macht diesen Irrsinn mit, weil sie so gut bezahlt wird. Danach ist er, um die Balance wiederzufinden, nach Ruanda Entwicklungshilfe machen gegangen. Auf jeden Fall hat er mir ein paar interessante Tipps fürs Kochen gegeben, darunter:

⁃ in einer unbekannten Küche, die man benutzt, erstmal alle Schränke und Schubladen öffnen, und dann so vor der offenstehenden Küche stehen und sich einen Überblick verschaffen.

⁃ Das Essen vor dem Servieren ein paar Minuten stehen lassen, bis es aufgehört hat allzu sehr zu dampfen, damit man dann beim Essen nicht den Dampf, sondern die Gerüche im Gesicht hat. Immer die Teller vorwärmen. Lustig ist, wie er immer nur zum Essen seine Brille aufsetzt, das verleiht dem Essvorgang eine schöne Autorität.

⁃ Wenn man keinen Holzofen für die Pizza hat: Die Pizza komplett fertigmachen, aber ohne den Käse (Mozzarella). Dann in den heißestmöglichen Backofen, auf die unterste Schiene. Wenn der Boden perfekt ist, die Pizza rausholen, den Mozzarella drauf, und auf die oberste Schiene, bis der Mozzarella gut ausschaut. Die Soße für die Pizza macht er nur mit Dosentomaten und Salz. Oregano oder Knoblauch oder Basilikum wenn dann später als Belag oder zum Servieren drauf.

⁃ Auch interessant: in die Bolognese-Soße tut er ebenso viele Dosen Wasser wie Dosen Tomaten. Das hab ich noch nie gemacht. Außerdem Olivenöl, Zwiebeln, Karotten, Stangensellerie, ein Glas Wein, Rinderhackfleisch, Salz. Kein Knoblauch, kein Pfeffer, keine Kräuter.

Ich hoffe ich kann mich an die vielen Koch-Tipps und Erklärungen, die er mir ständig gibt, erinnern, wenn ich mal in die Situationen komme. Gute, wenige Zutaten sind aber das Wichtigste. Die Küche, die er am meisten bewundert, ist die indische, wegen der vielen Gewürze, die sie, wie Ratatouille in dem Film (sein Vergleich!), wie Zauberer in die Pfanne werfen und perfekt abschmecken.

Soviel zu dem Koch und meiner aktuellen Situation. Jetzt wollte ich noch die schöne Geschichte von der Livia und mir erzählen, dem 8 jährigem Nachbarskind auf dem Bauernhof. Es war sicherlich die bisher schönste Geschichte der Reise, wahrscheinlich, weil Kinder einfach so wunderbar in ihrem Wesen sind.

Livia hat nebenan gewohnt, und wenn ihre Schule aus war, kam sie eigentlich jeden Tag zu uns auf den Olivenhain und half mit, da es zu Hause langweilig war: ihr Vater (Journalist) war wegen der Frühschicht zu müde, um etwas zu tun, und die Mutter arbeitete. Bei unserer ersten Begegnung beim Ernten fragte ich sie, ob sie schon mal eine rohe Olive probiert hätte; hatte sie nicht. Ich erzählte ihr, dass zwar die grünen Oliven bitter wären, die schwarzen seien hingegen „dolcissime“, ganz süß, wie Weintrauben. In Deutschland würden wir aus Oliven Zucker herstellen, sagte ich, weil sie so süß seien. Ich versprach ihr, eine Postkarte aus Portugal zu schicken, wenn sie eine Olive probierte. Ich holte eine Gitarre und sang ihr ein „deutsches Volkslied über die Süße der Oliven“ vor. Und ich erklärte ausführlich, wie wir den Zucker aus den Oliven machen. Nunja, diesen ersten Nachmittag hielt sie tapfer und immer lachend meinem Drängen stand, und ihre Standhaftigkeit und Aufgewecktheit begeisterten mich. In den nächsten Tagen hab ich dann immer wieder Sachen mit ihr gemacht – gemalt, Papierflieger gebastelt, Blockflöte gespielt, geschnitzt, Uno gespielt, ein Feuer gemacht, ich hab ihr das Haus-vom-Nikolaus-Malen beigebracht („La casa die Babbo Natale“) etc. – und mich lange mit ihr über alle möglichen Dinge unterhalten. Es war echt cool, wie geduldig sie war, wenn ich ein Wort nicht wusste, und wie gut sie das gebrochene Italienisch verstand. Natürlich kam ich immer wieder auf das Oliven-Probieren zurück, das war sozusagen unser Running Gag, und immer weigerte sie sich, aber total lachend. Irgendwann lud sie mich auf ihren Kindergeburtstag ein, und war sehr traurig, als es klar wurde, dass ich ein paar Tage davor abreisen würde. Der Gastvater fragte mich, warum ich ihr lauter Quatsch erzähle statt wahren Dingen, sodass sie etwas lernen könnte. Aber er hat recht, als er auf meine Erklärungen antwortete, dass an mir ein Pädagoge verloren gegangen sei, denn: ich bin davon überzeugt, dass das einzige, was für die Kinder (und Erwachsene) zählt, ist, dass die Geschichten irgendwie spannend oder unterhaltend sind. Dass sie nicht stimmen (wie als ich ihr beim Zeigen eines Kratzers auf meinem Bein erzählt habe, dass mich ein Wolf und sein Freund, ein Bär, am Vormittag angegriffen hätten, dort hinten beim Waldrand), dass sie also nicht stimmen, merken die Kinder ja selber oft, und freuen sich an dieser verrückten Mischung aus Quatsch und wahren Geschichten, und je verwirrender es ist, je unklarer, ob wahr oder falsch, desto interessanter ist es ja.

Nungut, es kam also der letzte Nachmittag, und ich sagte ihr natürlich schon bald, dass wenn, dann müsse sie heute die Olive probieren, da es ja mein letzter Tag sei. Obwohl sie sich vordergründig weigerte, setzte sie sich als Feierabend war doch neben mich ans Feuer und fing selber davon an zu reden. Sie müsse erst noch nach Hause ein Glas Wasser holen, damit sie den Geschmack schnell herunterspülen könne. Ich meinte „Dort hinten, unter der Leiter, steht der Tonkrug mit Wasser, den kannst du doch benutzen“ (also wenn ich das auf italienisch sage klingt das ungefähr so: „La! C‘é l‘acqua, nell terracotta. Puoi bevere di questo!“ Aber sie hat es verstanden…). Sie holte auch zwei Oliven für uns beide, und natürlich war es noch ein großes Drama (wir haben unter anderem einen Countdown bis 50 gezählt, an dessen Ende natürlich nichts geschah). Irgendwann biss sie aber doch in die Olive, und sobald ein klein bisschen Saft ihre Zunge berührte, warf sie sie weg und rief: „C‘é marissima!!!“ also: es ist sehr bitter! Und da kam der große, wundervolle Höhepunkt. Denn in dem Moment gab ich spontan nach, und sagte zu ihr leise und ernst: „É vero. C‘é marissima. Anché per me.“ Und so ein Erstaunen hab ich in meinen Leben nicht gesehen. Ihr Kinn klappte wirklich nach unten, und sie sah mich mit riesigen Augen an. Sie hatte mir natürlich über die vielen Situationen über die Woche hinweg angefangen zu glauben, dass schwarze Oliven – zumindest für mich, wie sie mir erklärte – süß sind. Ich hatte auch über die Woche hinweg bestimmt 10 Oliven vor ihr gegessen und immer ganz entzückte Grimassen geschnitten. Naja, also sie war völlig baff. Dann sagte ich: „Io fatto un scherzo. Non facciamo zucchero di Olive nel Germania!“ Und sie war so baff, so völlig überfordert von der Situation, aber dann fing sie an Tränen über sich selbst zu lachen, und bis zum nächsten Morgen, immer wenn wir uns sahen, lachte sie aus ganzem Herzen, und sie ging zu einem nach dem anderen auf dem Hof und fragte sie: „HAST DU GEWUSST, DASS ES NUR EIN SCHERZ WAR? Ich habe alles geglaubt! Alles! Alles!“ Also so etwas hatte sie auf jeden Fall in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt. Sie hat einfach wundervoll über sich selbst gelacht, lange lange. Später erzählte sie mir noch, dass sie mir das mit der Zuckerproduktion zuerst nicht geglaubt hat, aber nachdem ich es so ausführlich beschrieben hatte, wie wir das machen, hatte sie es doch geglaubt. Total interessant finde ich auch, wie sie, als sie die Olive probiert hatte, ja schon wusste, dass sie super bitter sind, aber die ganze Sache mit den süßen Oliven immer noch glaubte. Erst in dem Moment, als ich sagte „Auch für mich!“, brach das ganze Kartenhaus in einem großen Knall zusammen.

Also das war eine wunderschöne Geschichte. So ein großes Abenteuer war diese Woche für sie, die sich mit dem bärtigen Deutschen angefreundet, und Oliven probiert hatte.

Ein Glückspilz und das Ende der Spiritussuche

Ich bin ja schon ein Glückspilz, heute besonders aus zwei Gründen.

Der Erste: ich habe heute morgen entschieden, schon mittags zu stoppen und mal alle meine Sachen und mich sauber zu machen. Eigentlich wollte ich in ein Hostel in Ravenna, aber die haben alle geschlossen, sodass ich jetzt auf einem sehr sympathischen „Bio“-Campingplatz bei der Familie in der Küche sitze und schreibe. Das Glück, das ich dabei hatte, ist, dass es außen seit zwei Stunden wie aus Kübeln regnet und auch stark gewittert. Das wäre ein sehr unangenehmer Nachmittag auf der Straße gewesen, und stattdessen sitze ich im Warmen und schaue dem munteren, stürmischen Treiben draußen zu. Dass ist mich dafür entschieden habe, den großen Putz-Tag ausgerechnet heute zu machen, kommt nicht daher, dass ich eine Wettervorhersage kannte (ich verwehre mich denen dogmatisch), sondern vielmehr wegen folgender Geschichte: ich habe seit Wien nicht mehr geduscht, und mich nur einmal in einem slowenischen Fluss und zweimal im Meer gewaschen. Das wäre weiter nicht schlimm, man gewöhnt sich daran, dass die Haut ein wenig klebt, beim Radfahren riecht man eh nichts von sich selbst, und auch nachts im Zelt finde ich es so gemütlich, dass ich immer morgens ungern den Schlafsack und das Zelt verlasse. Gestern habe ich aber am Strand geschlafen (es war gestern außerdem der erste richtig warme Tag – mit T-Shirt und kurzer Hose und allem drum und dran). Dieser Abend und Morgen waren wunderbar, da ich im Osten einen Mondaufgang, im Westen einen Monduntergang und im Osten einen Sonnenaufgang miterlebt habe, und auf dem ganz flachen Strand wie auf einem fremden Planeten völlig alleine war. Die Folge dieser schönen Zeit war allerdings, dass in allen meinen Dingen, und vor allem an meinem Körper, überall ein bisschen Sand war. Das war nun doch unangenehm genug, um mich nach einer Dusche zu sehnen. Also, der erste Glücksfall ist, dass ich heute eh eine Herberge aufgesucht hätte, und ich dadurch zufällig einem echten Unwetter ein Schnippchen geschlagen habe.

Der zweite Grund, warum ich mich Glückspilz nenne, ist, dass ich so nette und auch kompetente Freunde in der Heimat habe. Auf meinen letzten Blogeintrag haben sich drei Menschen bei mir gemeldet: 1. die erwachsene Aufsichtsperson von damals, der studierte Chemiker. 2. meine Tante, eine Apothekerin, also sozusagen eine echte Insiderin des Spiritushandels. 3. ein Schulfreund, mit dem ich seit dem Abi keinerlei Kontakt mehr hatte, und der für mich ebenfalls einen Chemiker gefragt hat. Also herzlichen Dank für diese hilfreichen Nachrichten! Bevor ich aber die Fachlage und die Lösung meines Problems erklär, erzähle ich, wie mein Problem sich weiterentwickelte, bevor die hilfreichen Nachrichten eintrafen. Gestern fuhr ich, halb bewusst, halb unbewusst, mit dem Tagesziel, diesen Baumarkt zu erreichen. Die 80km, von denen ich letzten Eintrag geschrieben habe, waren aber die Luftlinie, die einem GoogleMaps anzeigt, wenn man schlechten Internetempfang hat. Also es war ein langer Tag, und um 18:30 erreichte ich mein Ziel. Es war ein echter, großer Baumarkt, wo die Rasenmäher an Schnüren von der Decke hängen, und ich fragte nach Spiritus, sofort kompetentes Nicken, und der Mann führt mich zu einem Regal voll von dem rosa 90%-Zeuch, in allen möglichen Größen! Was anderes haben Sie nicht? Nein. Als ich den Baumarkt nach 3 Minuten wieder verließ, setzte ich mich auf dem Parkplatz auf den Boden, und fühlte mich so leer wie nach einer großen Prüfung. Eine halbe Stunde (das ist nicht übertrieben) saß ich da, weil ich gar nicht wusste, wo mich meine Beine jetzt hin tragen sollen. Auf dem Parkplatz wurde mir aber eines klar: dass ich überall nur das rosa Zeuch finde ist kein Zufall, sondern hat bestimmt rechtliche Gründe. Man darf in Italien wohl nichts höheres als 90% verkaufen, außer in Apotheken, und deshalb ist es sinnlos weiterzusuchen. In Österreich gab es hochprozentigen Spiritus in jedem SPAR-Supermarkt (Anmerkung: heute beim „Aufräumen“ habe ich den Aluminiumkanister aus Österreich gefunden, und auch der hat nur 96%). Ich fuhr dann zum Strand und hatte noch einen schönen Abend. Die Nachrichten, die mich dort erreichten, enthielten die folgenden erhellenden Informationen (ich zitiere den Chemiker): „Bei hohen Temperaturen verbrennt Alkohol vollständig zu Kohlendioxid und Wasser. Brennspiritus enthält neben Alkohol unterschiedlichste Vergällungsmittel die den schwarzen Ruß erzeugen. Ohne die giftigen und bitteren Vergällungsmittel könnte man das Zeug trinken ohne Alkohol Steuer.“ Also das war die Ruß-Erklärung: reiner Alkohol würde nicht rußen, aber damit die Alkohol-Steuer nicht greift und man es zu billigem Schnaps weiterverarbeitet, werden giftige Substanzen hinzugesetzt, die beim Verbrennen den Ruß erzeugen. Das hat mich doch einigermaßen betrübt, da ich dachte, ich könnte das Problem (wie das Verhalten des Mondes) mit Vernunft, Zeit und Kenntnis der Naturwissenschaften lösen, dabei liegt dem ganzen, auch der Allgegenwart des rosa Zeuchs, eine verdrehte Wirtschafts- und Rechtslogik zugrunde. Mir scheint es, dass Juristen wohl die wahren Survival-Experten der Moderne sind. Zugespitzt könnte man formulieren: mein Kocher rußt nicht aus chemischen, sondern aus steuerrechtlichen Gründen. Nungut. Da reiner Alkohol in der Apotheke laut meiner Tante für mich unerschwinglich ist, habe ich entschieden, solange ich in Italien bin, mit dem rosa Zeuch zu kochen (das kostet nur 2€ der Liter, die Alternativen das 10-fache.). Das ist also meine Form von „sich den Landessitten anpassen“. Und wenn ich irgendwann nach Frankreich komme, werde ich dort mal den französischen Spiritusmarkt strapazieren.

Ein praktisches Problem

Da ich gerade Robinson Crusoe lese, und dabei bemerkt habe, wie unterhaltsam es ist, von den praktischen Problemen eines Menschen in einem anderen Lebenskontext zu hören, mache ich heute morgen dasselbe: einen anderen Kontext als ihr habe ich, und… nunja, praktische Probleme habe ich auch genug!

Nur ganz kurz zu meiner Gesamtsituation: ich bin gerade zwischen Chioggia und Ravenna, und habe gerade zwei Pausetage und gestern einen kurzen Tag gemacht, wegen meiner aufgetauchten Knieprobleme. Was diese Probleme angeht, bin ich aber heute morgen viel optimistischer als in den Tagen davor. Die Landschaft und Kultur ist sehr schön, aber die vielen Mücken führen hier echt einen erbitterten Kleinkrieg gegen die Menschheit. Ein dreifach hoch auf mein australisches Teebaumöl, das mir immer für 5 Minuten sozusagen eine Feuerpause verschafft! Leider ist es heute morgen leer gegangen. Zu meiner aktuellen Situation: ich sitze in einem Café und trinke fantastischen Cappuccino…

Also, mein praktisches Problem, von dem ich heute erzähle, geht darum, dass ich einen Spirituskocher habe, aber hier in Italien keinen gescheiten Spiritus, also reinen Alkohol, zu kaufen finde. Dieses Problem zu lösen oder zu umgehen beschäftigt mich seit Tagen. Ich habe einen Kocher, von dem ich sehr begeistert bin. Er ist baugleich mit diesem Kocher hier, aber er ist von Tatonka und aus Edelstahl statt aus Aluminium, was anscheinend gesünder, aber vor allem robuster, hübscher und hygienischer ist. Er ist sehr simpel, robust und windgeschützt, und funktioniert mit Spiritus, was es überall gibt (dachte ich), und daher gefällt er mir sehr gut. Er hat mir bisher sehr gute Dienste geleistet, ich koche darauf jeden Morgen Haferflocken, zweimal am Tag Kaffee, und mindestens einmal am Tag Nudeln. Jahrelang hatte ich Probleme mit dem Wind, und das ist Vergangenheit, seit ich mir vor ein paar Monaten diesen Kocher gekauft habe. Sogar bei stürmischem Wetter hinter Wien hat er perfekt funktioniert. Somit habe ich bisher schon 1,5 Liter Spiritus verkocht, und als die erste Flasche in Österreich leer wurde, bin ich in das nächste Baumarkt-ähnliche Geschäft, und kam sofort mit einem schönen 1l-Aluminium-Kanister Spiritus heraus. Ein Problem hatte dieser Spiritus aber, oder es war mir bis daher nicht aufgefallen, und es ist bei dem Kocher immer so: an der Unterseite der Töpfe bleibt immer Ruß zurück, und man muss aufpassen, dass man sich beim Essen und Trinken da nicht die Finger voller Ruß macht und danach alles was man berührt verdreckt. Da dachte ich mir dann: Spiritus ist ja eigentlich einfach Ethanol, aber es gibt doch „Brennspiritus“ und „Reinigungs-Spiritus“ und auch „Speisespiritus“, zum Flambieren. Und der Unterschied, habe ich mir überlegt, liegt vielleicht darin, dass es eben nur 99% Ethanol und 1% sonstiges ist, was eben den Unterschied zwischen den Sorten ausmacht, und vielleicht rußt eine Variante mehr. Vielleicht rußt aber auch einfach das Ethanol: Ruß ist in meinem Kopf einfach ein anderes Wort für das Element C, und beim Oxidieren von Ethanol könnte das ja in geringen Mengen übrigbleiben. Aber ich bin kein Chemiker. Vielleicht war also der österreichische Baumarkt-Spiritus eher der Reinigungsspiritus, und den ich in einem Münchner Baumarkt gekauft hatte Brennspiritus? Als mir also der Spiritus in Italien ausging, ging ich in einen Supermarkt, dort gab es aber nur 90% rosa Reinigungsspiritus. Da ich ja skeptisch war, was dieses 1% angeht, war ich noch skeptischer, was 10% für Wirkung haben würden! Ich ging also raus, ohne ihn zu kaufen, und fragte in einer Apotheke. Die hätten mir das bis zum Abend bestellt, aber das war mir irgendwie zu blöd. Leider leider leider habe ich nicht nach deren Preis gefragt, das sind so die kleinen Fehler, die man auf so einer Reise macht. Da es abend wurde, und ich mir etwas kochen wollte, ging ich doch nochmal zurück in den Supermarkt (was immer ein ziemlicher Act ist, denn ich muss meine 6 Fahrradtaschen in einen Einkaufswagen umschichten, und passendes Geldstück für den Wagen haben, etc.). Dort stand ich vor dem Regal, und mir kam folgende Geschichte in den Sinn: als ich noch ein ganz kleiner Bub war, da habe ich mit so KOSMOS-Chemiebaukästen experimentiert. Da war ein einziger, kleiner, weißer Würfel dabei, und der hieß „Trockenspiritus“. Als ich eines Tages, zusammen mit einer erwachsenen Aufsichtsperson, Experimente machte, und das Experiment mit dem Trockenspiritus drankam, rief ich: „Nein, das ist zu schade, von dem hab ich doch nur den einen!“ Und die Aufsichtsperson (ein studierter Chemiker) sagte: „Ach was, Trockenspiritus! Das ist auch nichts anderes als diese weißen Grillanzünder, das ist nicht wertvoll!“ Nungut, mit diesem soliden Background-Wissen ausgestattet entschied ich mich also 15 Jahre später in dem italienischen Supermarkt eine Packung weißer Grillanzünder zu kaufen, in der Hoffnung, dass sie mir kurzfristig über meinen Spiritusmangel helfen würden. Als ich das Nachtlager aufgeschlagen hatte und kochen wollte, holte ich also diese Packung raus, und als ich den Karton öffnete, konnte ich auf der Folie, in die die Grillanzünder eingeschweißt waren, endlich die Inhaltsstoffe lesen. Wegen meiner Kindheitserinnerung hoffte ich „Ethanol“ zu lesen, aber ich las „Kerosin“. Da ich jetzt aber keine schlechten Erfahrungen mit Kerosin habe (ich habe gar keine Erfahrungen mit Kerosin) setzte ich die Kochaktion fort. Es sollte ursprünglich Nudeln mit Dosentomaten, Knoblauch, vom Wegrand gesammeltem Rosmarin und Mozzarella geben. Ich zündete also einen Kerosinwürfel in dem Kocher an, und sah, dass das Wasser nur sehr langsam wärmer wurde. Der Würfel wurde beim Brennen schwarz und immer kleiner, bis er weg war, und ich einen zweiten anzündete. Da wirklich keine gute Hitze entstand, änderte ich das Rezept von „Nudeln mit all dem Zeug“ zu „Tortellini mit all dem Zeug“, denn die müssen nur ganz kurz, wenn überhaupt, kochen. Eigentlich müssen sie nur warm werden, und das, dachte ich, schaff ich. Das Ende vom Lied ist, dass es an dem Abend kalte Tortellini mit kalten Dosentomaten und ungeschmolzenen Mozzarella-Stücken gab, was ja auch nicht so schlecht ist. Die Überraschung kam aber, als ich am nächsten Morgen den Topf aus dem Kocher nahm (um meine Hände nicht voll Ruß zu machen, esse ich immer aus dem Kocher, um den Topf nicht berühren zu müssen). Die beiden Kerosin-Würfel waren in schwarzer Form komplett an die Unterseite des Topfes gewandert, und dort war jetzt eine dicke, solide schwarze Schicht, in der Mitte am dicksten, die ich aber zum Glück gut entfernen konnte. Den Versuch sah ich also als gescheitert an, und schmiss die Packung Grillanzünder in den nächsten Müll (zum Glück haben sie mich nur 1,20€ gekostet). Da ich einen Pausetag machte, ging ich wieder in diesen Supermarkt, und kaufte den rosa 90%-Spiritus, als nächsten Ausweg. Über den ist zu sagen, dass er zwar brennt, aber viel weniger Hitze entwickelt als reiner Spiritus. Das ist insofern interessant, als dass er beim Brennen genau so aussieht wie echter Spiritus, aber eben anscheinend viel kälter verbrennt. Immerhin bringt er das Wasser nach einer langen Weile zum Kochen, sodass ich Nudeln und Kaffee machen kann. Leider stinkt er echt eklig süß, und am Ende bleibt immer eine braune Suppe in dem Kocher zurück (die 10% Übriges), das noch ekliger süß stinkt. Das hat mir die letzten zwei Morgen den Appetit auf ein ausgedehntes Haferflocken-Frühstück genommen, sodass ich mich jetzt mit Brioche und anderem durch den Vormittag schlingel. Überall besuche ich so Eisenwaren/Haushaltswaren/Angler-Geschäfte, aber alle haben nur das rosa Zeuch. In 80km auf meiner Strecke ist ein großer Baumarkt, dort hoffe ich reinen Spiritus zu kaufen. Einen verrückten Abschluss hat die Geschichte noch: heute morgen mache ich mir also Kaffee, und als ich die Sachen zusammenpacke, entfährt mir ein leises „No way…“: am Topfboden ist überhaupt kein Ruß! Dieses rosa 90%-Zeuch rußt nicht! Das ist jetzt doch sehr interessant, der Ruß stammt also nicht vom oxidierenden Ethanol, sondern von etwas anderem. Mal sehen, wie sich die Sache ausgeht. Ich hätte lieber echten Spiritus, der rußt, als rosa Süß-Papp, das nicht rußt. Aber reiner Brennspiritus, der nicht rußt, tja, das ist, wovon ich träume…

Slowenien

Ich bin mittlerweile in Italien, daraus folgt logisch dass ich in einem Cafe sitze und fantastischen Cappuccino trinke (proof by deduction). So sehr mich Italien schon voll in seinen Bann gezogen hat (Meer, Pizza, Mücken, Hitze), möchte ich ja doch noch etwas zu meinen Eindrücken von Slowenien schreiben, deshalb bin ich jetzt mal stehen geblieben um zu schreiben. Um noch mal kurz bei heute zu bleiben, der heutige morgen lief folgendermaßen: ich bin auf einer Wiese aufgewacht, musste irgendwie ohne von Mücken zerstochen zu werden Frühstück machen, dann bin ich losgefahren, um mich herum ab und zu dumpfe Schüsse hörend. Anscheinend haben Jäger dort heute Fasane gejagt, und ich bin froh, dass ich bei dieser Aktion kein einziges Leben verloren habe. (Es klingt auf jeden Fall dramatischer als es ist, denn sie haben „nur“ mit Schrot geschossen. Nein, es muss sich wirklich keiner Sorgen machen, ich schreibe es nur, weil es die Wahrheit ist. Das war der Morgen.). Tja, und das zweite „Highlight“ des heutigen morgens ist, dass ich, glaube ich, komplett 180° in die falsche Richtung gefahren bin, und nach diesem Cappuccino die 25km wieder zurück fahren werde, falls mir nicht noch irgendwas cleveres einfällt, was aber gut möglich ist. Ich hätte dem Bauern glauben sollen, dass das die falsche Richtung ist, aber ich habe mich nach der Sonne orientiert, und bin in die richtige Himmelsrichtung gefahren. Ich dachte mir noch so: Hallo, wem werde ich jetzt wohl glauben, einem Bauern oder der Sonne? Tja. Irgendwie dumm das Ganze.

Um noch ein bisschen bei meiner aktuellen Stimmung zu bleiben: das Reisen verändert einen schon sehr. Man macht sich am Tag über 1000 Dinge Gedanken, aber nie lange, und nie verkrampft. Die Gedanken ziehen an einem vorbei wie Wolken an einem Berg (das Bild ist nicht von mir, sondern von irgendeinem Meditationsbuch). Es ist wirklich so. Das einzige Thema, das zurzeit immer wiederkehrt, sind interessanterweise Himmelskörper und ihre Bewegungen: zu welcher Uhrzeit steht die Sonne genau im Süden? Hängt das vom Längengrad oder vom Breitengrad (oder beidem) der aktuellen Position ab? Und von der Jahreszeit? Anscheinend nicht von der Jahreszeit, dachte ich mir gestern, denn sonst würden Sonnenuhren ja nicht funktionieren. Wenn ich abends die Sterne wandern sehe, mache ich den Perspektiv-Wechsel, dass nicht die Sterne wandern, sondern wir uns drehen. Dasselbe mit der wandernden Sonne. Auch ist mir aufgefallen, was ja total logisch ist, dass wenn der Mond, wie zurzeit, zunehmend ist, er immer links von der Sonne ist. Das ist ja klar, aber war mir noch nie ins Bewusstsein gedrungen. Aber mehr als diese echten „Gedanken“ (ich mache mir manchmal auch Gedanken über Volt und Ampere und versuche das Phänomen Strom zu verstehen, ohne Erfolg) oder echte „Geschichten“ hat man auf so einer Reise vor allem Sinneseindrücke. Eigentlich müsste ich euch von Gerüchen, von Geräuschen, von Temperaturen, von meinem Körper, von Licht und Schatten, oder von Mini-Momenten erzählen. Man wird, so wirkt es, sensibler und zentrierter und ruhiger.

Also, Slowenien.

Die slowenische Sprache

An der slowenischen Grenze habe ich ein paar wichtige Worte im Internet rausgesucht: Guten Tag, Danke, Entschuldigung, Knoblauch. Damit war ich schon genügend ausgestattet, denn ansonsten hat mir mein Polnisch perfekt ausgeholfen: ich habe 90% der slowenischen Alltagsworte verstanden. Es ist wie polnisch, aber man muss viele „i“’s und Zischlaute weglassen: Pekarna statt Piekarnia, Pes statt Pies, Ne razumem statt Nie rozumie, Reka statt Rzeka, Kje je statt Gdzie jest, etc. Als der Bauern seine Herde Kühe auf mich losgelassen hat, und mir mir lachend geredet hat, habe ich alles verstanden, was ein ganz seltsames Gefühl ist: man weiß, dass man die Sprache nicht spricht und die Worte eigentlich nicht versteht, aber am Ende des Satzes weiß man, was gemeint wurde.

Die slowenische Landschaft

Leider habe ich die meiste Zeit von der Landschaft nichts gesehen, da sehr tief hängende Wolken jede Sicht versperrt haben. Die letzten eineinhalb Tage wurde das Wetter aber gut, und ich konnte ein sehr schönes, hügeliges Land sehen. Es ist, so würde ich es beschreiben, eine Märchenlandschaft: man kann sich richtig gut vorstellen, dass es in diesen Hügeln, Wäldern und Bergen Hexenhäuschen, Wölfe, Bären, Drachen, Ritter und Prinzessinnen leben. (Wölfe und Bären gibt es dort tatsächlich, aber ich habe ihre Bekanntschaft nicht gemacht.)

Ich habe außerdem immer darauf gewartet, dass ich die „mediterrane Klimagrenze“ überschreite, also dass sich irgendwann mehr oder weniger schlagartig Flora und Fauna ändern und ich von wildem Rosmarin, Thymian und Olivenbäumen umgeben bin. Diese Grenze scheint es allerdings hier nicht zu geben, und erst in Italien änderte sich langsam die Natur, zuerst in den Gärten, und langsam auch außerhalb der Gärten. Aber auch hier bei Venedig am Meer ist es noch weit weniger mediterran als zum Beispiel in Korsika oder Südfrankreich.

Die slowenischen Menschen

Sehr verschlossen. In Österreich hat mir jeder auf noch so umständliche Weise die Vorfahrt gegeben, hat mich strahlend gegrüßt, und jeder fragte, wohin die Reise ginge, da ich ja offensichtlich ein größeres Projekt verfolge, Imker haben mir ihren Honig geschenkt, etc. In Slowenien war die Stimmung eine krass andere: keiner grüßte mich, die Leute scheuten Blickkontakt, und wenn ich sie grüßte fühlten sie sich unwohl. Wenn mir Leute Vorfahrt gaben dachte ich mir immer: Ahja, da ist bestimmt ein Auto hinter mir, dem sie Vorfahrt geben, und so wars dann auch immer. Ich denke nicht, dass die Leute irgendwie sauer auf mich waren, nach dem Motto „Der Schnösel kann sich so ein Hirngespinst leisten, und ich nicht!“, oder dass dort so viele von meiner Sorte durchkommen, dass sie abgestumpft wären. Nein, es scheint so, als wäre jemand wie ich einfach ein Sonderling, mit dem man am besten nichts zu tun haben will. Der Chris, der Engländer der mir das Fahrradfahren nahegebracht hat, hat mir mal über Radfahren in Afrika gesagt: „As a cyclist, your life is as much worth as the life of a donkey“. Daran musste ich manchmal denken, wenn die Leute mir einfach keine Vorfahrt gegeben haben, als wäre ich unsichtbar. Hingegen muss ich sehr positiv bemerken, dass beim Überholen alle Leute sehr großen Abstand zu mir gehalten haben, was sehr angenehm war. Drei Leute waren spontan auf der Straße nett zu mir (in Gesprächen, wenn man sich kennenlernt, waren eigentlich alle ganz nett): eine Gruppe Österreicher, ein altes Ehepaar (vermutlich auch Österreicher), und zwei Männer in einem Lieferwagen, die abgebremst sind, um mir dann mit Daumen und ausgestreckten Fäusten zuzujubeln. Das hat vielleicht meine Stimmung gehoben! Wir sollten alle viel netter zueinander sein, solche Komplimente wirken! Ich erinnere mich, und werde mich immer dran erinnern, wie ich von Tübingen nach Mailand gewandert bin, und bei Mailand wandere ich zwischen Feldern an einem Baum an zwei Männern vorbei, und ohne mich zu fragen, wohin ich gehe oder woher ich komme, fingen sie einfach nur an zu klatschen und riefen „Bravo!“. Das war ein Magic Moment. Mehr davon!

Die slowenische Küche

…kenne ich nicht, aber folgendes ist ganz interessant: Slowenien hat voll die Döner-Kultur! In jedem Ort gab es mindestens eine viel besuchte Dönerbude, und die drei Döner, die ich gegessen habe schmeckten alle hervorragend. Aber das Interessante ist hier sprachlicher Art: in Österreich sagt man nicht „Döner“, sondern „Kebab“. In Slowenien aber heißt es „Kebab Döner“, und zwar mit „ö“ geschrieben, einem Buchstaben, den es im slowenischen nicht gibt. Es ist also ein echtes deutsches Fremdwort. Da musste ich dran denken, dass vielleicht in ein paar Jahren Döner ein typisch deutscher Kulturexportschlager wie Sauerkraut, Mercedes oder Oktoberfest sein wird.

Es gibt natürlich noch viel mehr zu erzählen, kleine Kleinigkeiten. Ein schöner Moment war zum Beispiel in einer Bar, wo ich nach einem Döner fragen wollte. Ich kam rein, und hörte ein Lachen, wie es eigentlich nicht in der Realität vorkommt, sondern in einem surrealen Film oder in einem Roman oder so: ein ganz seltsames, regelmäßiges, hohes Gackern. Ich schaue mich um, und es kommt von einem alten Mann, offensichtlich Alkoholiker, der ein bisschen aussieht wie ein Zwerg. Ich frage also die Bedienung nach einem Imbiss, und sie sagt, ein Gast wird mich dorthin führen. Wie es der Zufall so will, ging sie natürlich genau zu dem Gackerer, und er kommt zu mir, sagt auf Deutsch „ich zeige es ihnen, einen Moment, 5 Minuten, ok?“ Und ich sage natürlich ok, und er verschwindet von der Terrasse nach innen… und kommt im nächsten Moment mit einem halben Liter Bier in seiner vollen Pracht mit Schaumkrone und allem drum und dran heraus, und kippt es sich noch in 5 Minuten runter bevor er mit mir losstiefelt. Als er mit dem vollen Bier rauskam konnte ich nicht anders als laut lachen, und alle lachten mit.

Ich könnte auch die Geschichte von dem Reisebus erzählen, der morgens um 8 am Straßenrand Pause machte, um für die Insassen ein kleines Frühstück zu ermöglichen. Was gabs? Brötchen, Wurst, Äpfel, und DOSENBIER. Alkoholismus ist schon krass in Slowenien, so schien es auf mich.

Alles in allem kann ich also sagen, dass, aufgrund meiner guten Stimmung dort und meines friedliebenden Charakters, mir Slowenien in guter Erinnerung bleiben wird, wenn ich auch die schöne Landschaft nur erahnen kann, und der Rest des Landes ein bisschen trashig rüberkam. Jetzt bin ich in Italien angekommen, und fahre an der Küste nach San Marino, wo ich dann über die Appenninen rüber will, nach Siena, durch die Toskana und dann wieder hoch nach Genua. Für heute ist angepeilt, wenn ich den richtigen Weg finden sollte, auf der Meeresseite an Venedig vorbeizufahren, auf diesen schmalen Landstreifen. Mal sehen, ob das hinhaut.

Tag 18

Na, das war ein lustiger Tag, den erzähl ich mal. Er enthält viele der typischen Leitmotive meiner Reisen, und gibt daher einen ganz guten Eindruck davon, was mir so auf meinen Wanderungen und Radreisen passiert.

Um Kontext zu geben: ich bin schon in Slowenien, und bin heute etwa 80km (ich habe schon seit vor Wien nicht mehr auf meinen Tacho geschaut) gefahren, aber sozusagen um ein Bergmassiv herum, sodass ich Luftlinie nur 30km von meinem letzten Zeltplatz entfernt schreibe.

Ich wache also auf, und es regnet stark, so, dass es im Zelt laut ist. Fein, denke ich mir, dann beginnt der Tag halt langsamer, und trinke gemütlich Kaffee, mache mir meinen Haferbrei, und schreibe einen Blogpost, den ich aber dann nicht gepostet habe, weil ich kein Internet hatte. Irgendwann ist es aber spät genug, und der Regen hört nicht auf, also packe ich alles im Regen zusammen, vor allem das Zelt klitschnass, und fahre los. Ich fahre an einem Fluss in den Bergen entlang, und es gibt zwei Optionen: auf der rechten Uferseite ist eine mittelstark befahrene Bundesstraße, die dafür flach ist, und auf der linken Seite ist der Radweg, der aber ständig in den Wäldern auf und ab geht. Weil es regnet, denke ich mir, ich fahre die Straße, denn von der Landschaft sieht man eh nichts. Nach einer Stunde wechsel ich die Uferseite, da mir die Autos doch lästig werden, und gurke im Wald, der durch den Regen etwas sehr dschungelhaftes hat, auf und ab. Irgendwann, gegen 12, komme ich doch in ein Örtchen, wo ich auf eine Pizzeria mit einer großen überdachten Terrasse treffe, was mir sehr gelegen kommt, da ich (denke ich) wegen meiner Körperhygiene nicht mehr irgendwo innen sitzen kann. Dort bestelle ich mir also eine Pizza, die viel besser schmeckt als sie aussieht (sie sah 2/10 aus, und schmeckte dann 5/10, würde ich sagen. Lustig, oder besser gesagt ungeheuerlich, schrecklich, unfassbar, ist, dass sie, wie in Polen, auch in Slowenien zu der Pizza Ketchup servieren.) Das war ein Stimmungsaufheller, denn ich war satt ohne viel Müh. Geregnet hat es aber weiterhin, und in der Pizzeria sah ich auf meiner Handykarte, dass ich auf der bergigen Uferseite überhaupt nicht voran kam. Also beschloss ich, wieder die Seite zu wechseln, da neben der Pizzeria irgendwo eine Brücke sein müsste. Die war aber wegen Bauarbeiten gesperrt, was ein echter Downer war, sodass ich weiter durch den schwächer werdenden Regen auf und ab fahren musste. Ich hatte immer den ersten Gang eingelegt, denn wenn es hoch ging, brauchte ich ihn, und wenn es runter ging, ließ ich es rollen. Diese Art der Fortbewegung ließ ich also zwei Stunden stumpfsinnig über mich ergehen, bis ich nach Dravograd kam, von dem ich in den Stunden davor auf den Schildern so viel gelesen hatte. Ein absolut heruntergekommenes, kleines Städtchen, ohne einer gescheiten Parkbank. Dort war ich mit den Kräften und auch stimmungsmäßig am Ende angelangt, da ich überhaupt nicht vorangekommen war, und durch den Regen nichts von der Landschaft gesehen hatte. Und jetzt gab es dort nicht mal ein kleinen Platz zum Pause machen. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen. Ich suche mir also einen kleinen Grünstreifen neben dem Fluss, direkt neben der Polizeistation, und lege aufs nasse Gras meine Isomatte. Völlig entkräftet sacke ich zu Boden und denke mir: das ist gerade eindeutig der bisherige Tiefpunkt der Reise, ich sitze hier neben einem stinkenden Fluss, neben einer ruinenhaften Polizeistation, im nassen Gras, kann nicht mehr, und vorangekommen bin ich auch nicht. Und im Regen ist diesem Land nichts abzugewinnen, alles wirkt einfach heruntergekommen. So denke ich, und lege mich zum Mittagsschlaf hin. Da war es 15:30. Jetzt wird’s lustig. Zwanzig Minuten in den Schlaf hinein werde ich auf einmal von Tropfen ins Gesicht geweckt: es hatte wieder angefangen zu Regnen. Wie von der Tarantel gestochen (im Rückblick habe ich mich sehr gewundert, warum ich so aufgesprungen bin, aber es war in dem Moment genau das Richtige) packe ich all mein Zeug zusammen, weil es wirklich zu schütten anfängt. 3 Minuten später sitze ich auf dem Fahrrad, und es gießt wie aus Kübeln. Sofort bin ich klatschnass (also von außen, die Regenkleidung hält immer noch komplett dicht), und auf den Straßen hat sich schon so eine 5mm Wasserschicht gebildet, sodass die Autos Spuren hinterlassen. Ich bin aber noch vom Schlaf ganz benommen, und strampel langsam vor mich hin, und suche Unterstand. Erst stelle ich mich bei Mülltonnen unter, das ist aber selbst mir zu blöd, strampel weiter, und sehe wie sich ein Mann in Blaumann an einer Scheunenwand untergestellt hat. Da stelle ich mich dazu. Dann kam sein Kollege, und sie haben eine große Baumaschine auf einen Anhänger verladen, und sich dabei total unfreundlich angeschnauzt, und sich extra gegenseitig nicht geholfen! Beide haben irgendwie aufeinander geschmollt, ganz verrückt. Ich war vom Schlaf immer noch so benommen, dass ich ihnen regungslos zuschaute, bis sie weggefahren waren. Als ich zu Bewusstsein kam, wurde mir klar, dass diese meine Gesamtsituation so elend war, dass es nur noch lustig und absurd war. Da lachte ich also. Ich wollte mir Kaffee kochen, aber an der Straße an der Wand auf dem Boden kam es mir unpassend vor. Weil ich nichts, aber auch wirklich gar nichts anderes zu tun hatte, ging ich an der Scheunenwand entlang und schaute um die Ecke. Da war ein… irgendwas, ein Klempnerbetrieb oder so, der hatte so was wie eine kleine überdachte Werkstatt, und er hatte zu, sodass niemand da war. Das war super, also ging ich – es regnete immer noch strömend – dorthin, und: siehe da! Das Schicksal wendet sich! Dort stand sogar eine Bank und ein Tisch! Das war also der Wendepunkt des Tages, also eigentlich das Lachen 5 Minuten davor, aber durch die Bank und den Tisch materialisierte er sich auch noch. Ich saß da jetzt im trockenen und machte mir guten warmen Kaffee. Ab und zu kamen Leute und fragten mich, als ob ich da arbeiten würde, irgendwelche Sachen. Drei Stück waren es, die mich fragten! (Hallo? Seh ich aus wie einer, der dort arbeitet, wenn ich ein vollbepacktes Reiserad neben mir stehen habe, und mir nach aller Camping-Kunst einen Kaffee koche? Nicht zu fassen 😃) Der Kaffee tat Wunder, und ich las noch Dostojewski weiter (von dem ich mal etwas länger schreiben muss, denn ich bin maximalbegeistert), und irgendwann, aufgewärmt, vom Kaffee aufgemuntert, ging es weiter, und sogar zu Regnen hatte es aufgehört! Da war es schon 17:40, weiß ich zufällig. Ich fuhr also weiter, und wollte Wasser holen, da war eine „Pekarna“, also eine Bäckerei, und als ich hineingehe sehe ich auf der Tür, dass es hier einen Döner+Getränk für 4€ gibt, also hab ich mir spontan noch einen Döner gekauft, der super gut war, und es war ein sehr netter Wirt, und ich fuhr mit noch besserer Stimmung und vollem Magen weiter. Dann wurde es langsam dunkel, und ich sah ein Hopfenfeld am Wegrand, und dachte mir dahinter ließe sich gut wild zelten. Ich laufe mit dem Fahrrad durch die Wiese, da begegnet mir ein junger Mann, der mich anredet. Wir wechseln ins Englische, und er war ein supernetter Mann, Nebenerwerbslandwirt, ihm gehört das Feld und die Wiese, auf der ich jetzt Zelte, er hat zwei Kinder, fährt ab und zu nach Nürnberg wegen Biermessen, ist von Beruf Ingenieur, hat schon in Toronto und Shanghai gearbeitet, spricht perfektes Englisch… nur auf die famose Idee, mich zum übernachten in sein Haus einzuladen, darauf ist er nicht gekommen 😃 Dabei hatte er noch nachdenklich bemerkt: in meinem Zelt wäre es jetzt nass und kalt. Nungut 😃 Also das war dann das Ende des Tages. „This is my land, if anyone bothers you, just call me!“.

Tja, so lässt’s sich schon leben: ein zäher Vormittag, ein absoluter Tiefpunkt am Nachmittag, und dann eine glückliche Fügung nach der anderen bis zum Schlafengehen.

Ein praktisches Wort zum Schluss: ich habe mein Zelt heute morgen im Regen abgebaut, es war klitschnass. Ich dachte mir noch: „Sollte ich heute mal kein Wasser zum Trinken haben, kann ich locker einen Liter aus meinem Zelt herausdrücken.“ Jetzt würde man ja denken das aufzubauen am Abend und darin zu schlafen wäre irgendwie problematisch oder so. Lasst es mich aber ganz klar sagen: es ist überhaupt kein Problem, in einem nassen Zelt zu schlafen! Nasser als meines jetzt gerade ist, geht es gar nicht, aber sobald man die Isomatte draufgelegt hat, ist der Unterschied zu einem trockenen Zelt marginal. Man stellt es sich vielleicht so vor, dass man das Zelt aufbaut und Wasser steht drin oder es tropft von oben oder so, aber das ist ja Unfug. Es ist einfach feucht, mehr nicht. Also: nasses Zelt -> kein Problem.