Rückblick auf der Reise dritter Teil
In den letzten Wochen hat mich der Strom der Reise entgültig mit- und von der Tastatur weggerissen. Immer wenn ich darüber nachdachte, mich hinzusetzen und zwei Stunden oder so für das Schreiben eines Blogeintrags zu verwenden, entschied ich mich wieder dafür, sich weiter dem Strudel der Reise hinzugeben anstatt eine Auszeit zu nehmen und die Beobachter/Erzähler-Perspektive einzunehmen. Selbst nachdem ich jetzt hier an meinem Zielort angekommen bin, habe ich vier Tage gebraucht, um einen Moment zu finden, in dem es mir richtig vorkam. Dieser Moment sieht so aus: ich sitze in der Morgensonne an der portugiesischen Küste, die Bananen flattern ruhig im Wind, man hört leises Vogelgezwitscher, ich habe gerade 15 Minuten das Ende der Walküren-Oper gehört und Kaffee getrunken, und bevor ich gleich damit anfangen werde, Gästezimmer neu zu streichen, habe ich sicher noch genügend Zeit für den Blogeintrag. (Im Laufe des Schreibens werde ich mir die Fleece-Jacke ausgezogen und in T-Shirt und kurzer Hose weitergeschrieben haben. 18 Grad sagt die Wetter-App, im Schatten nehme ich an.) Die anderen schlafen noch, aber selbst im wachen Zustand wären es die letzten, die mich zu irgendwas nötigen oder gar stressen würden.
Bei meinem letzten Eintrag fuhr ich gerade von meinem Aufenthalt bei dem Koch in Viareggio in Richtung Genua. Es war ein schöner Tag an der flachen Küste entlang, und das Zelt schlug ich dann in den Bergen an einem Fluss im Nieselregen auf. Wenn am nächsten Morgen die Sonne geschienen hätte, und ich noch dort gewesen wäre, wäre es sicher ein traumhaftes Frühstück geworden; die Sonne schien aber nicht, sondern es regnete, und ich war am Morgen schon nicht mehr dort. Die Aktion, die wohl der Reise dritten Teil einläutete, war: am Abend beschloss ich, angeregt von meinem Vater, um 4:30 in der Früh aufzustehen, nach La Spezia zurückzuradeln, dort einen Zug nach Genua zu nehmen, um dann noch die Fähre zu erreichen, die um 13 Uhr nach Barcelona abfuhr. Diesen Plan setzte ich dann um, und es war eindrucksvoll, denn ich fuhr also Nachts mit meiner Kopftaschenlampe durch die Berge, und es regnete immer stärker, bis es wirklich aus vollen Kübeln goss. Um 5 fuhr ich los, um 7:03 kam ich am Bahnhof ein, sprang in den Zug am Gleis, er fuhr um 7:06 los, und innen kaufte ich mir ein Ticket. An diesem Morgen erlebte ich wieder eines dieser wiederkehrenden Motive: man beginnt eine Sache, zum Beispiel morgens zum Bahnhof fahren, und für einen selber macht die Sache Sinn, und erst regnet es leicht, und dann immer stärker, aber wenn man dann an Passanten vorbei fährt, Nachts im Starkregen, merkt man, dass man auf andere völlig verrückt wirken muss.
Nach einer Komplikation, die durch einen bösartigen Sicherheitsmann am Hafen ausgelöst wurde, der mir unfreundlich allerlei Probleme bereitete (zum Glück die einzige solche Erfahrung auf der Reise), hatte ich schließlich ein Ticket in der Hand und wartete noch zwei Stunden im Regen vor der Fähre. Das waren sehr intensive, sagen wir, 48 Stunden, von der Entscheidung in den Bergen bis zur Ankunft in Barcelona, denn: ich lernte so viele Menschen kennen. Beim Warten im Regen auf die Fähre traf ich Jürgen, einen Aussteiger der seit Jahrzehnten mit dem Fahrrad durch die Welt tingelt. Er überzeugte mich, mit ihm auf der Fähre bis nach Tanger in Marokko mitzufahren, und dort dann direkt die kleine Fähre über die Straße von Gibraltar zurück nach Spanien zu nehmen. Das war dann, als ich auf der Fähre war, mein Plan, und ich besorgte die ganze behördliche Einreise nach Marokko. Als nächstes traf ich zwei wundervolle Australier, bisschen über dreißig, mit dem Motorrad unterwegs, die aus der Fahrt ein großes Trink- und Essgelage machten, mich zu allem einluden, und wir erzählten, lachten und weinten bis spät in die Nacht. Die werde ich nie vergessen, und sicher nochmal wieder treffen. Ich erzähle jetzt noch ein bisschen weiter, und dann komme ich auf sie zurück. Als nächstes traf ich dann am nächsten Morgen auf der Fähre einen buddhistischen Mönch, mit dem ich wieder den ganzen Vormittag redete (nicht sehr inspirierend! Tibetanischer Buddhismus, voller Traditionen, Überlieferungen, Dekrete, etc. Ich glaube es wäre ähnlich, mit einem vatikanischen Kurienkardinal zu reden. Wie Mephisto sagt: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum!“ Übrigens auch die Einstellung zur Sexualität ist ähnlich der katholischen Kirche, mit ähnlichen Argumenten: Eigentlich ist es ja nichts böses, aber wir müssen es streng verbieten, die Türen streng verschlossen halten, denn wären wir auch nur ein bisschen laxer, würde Chaos ausbrechen…). Und dann entschied ich mich spontan, doch in Barcelona auszusteigen und nicht bis Marokko mitzufahren, da ich den Eindruck hatte, wie man so sagt, über den Morgen vom Universum mehrere Zeichen bekommen zu haben, die Sache doch nicht zu machen. Der Rest ist dann schnell erzählt. Von all diesen Eindrücken emotional erschöpft – das Wwoofen, der Regen, der Koch, Jürgen, die Australier, der Mönch, und alles, was ich dazwischen erlebte – kam ich in Barcelona schnell zu der Entscheidung, dass ich auf dieser Reise genug erlebt hatte, dass es mit den Knien nicht wirklich weitergeht, und dass ich Lust darauf habe, nach Portugal zu kommen und mich dort niederzulassen. In den folgenden Tagen tingelte ich also durch Spanien, mit Zügen, einem Autostop-Versuch, einer Bus-Nachtfahrt, und auch mit dem Fahrrad. Irgendwann war ich dann tatsächlich in Portugal, und verbrachte zwei Tage an einem sehr schönen Strand in der wolkenlosen Hitze. Ich geb mal einen kurzen Eindruck wie das so war: ich traf eine sehr nette holländische Frau, mit der ich mich auch noch am nächsten Tag traf, eine Seelenverwandte, wenn man so will. Ich traf einen Belgier, der am morgen Muscheln am Strand sammelte und mir ein tolles Muschelgericht in seinem Wohnmobil zu Mittag kochte und mir an den Strand brachte. Ich traf deutsche Aussteiger, die ohne Krankenversicherung in ihrem Uralt-Wohnmobil ausgestiegen sind. Ich traf ein polnisch-englisches Paar mit Kind, die auch in ihrem Wohnmobil lebten, Homeschooling machte, und über Skype als Coaches arbeiteten. Sie luden mich zum Abendessen ein. Sie waren außerdem irgendwie seltsam radikale Patchwork-Buddhisten, so könnte man es wohl sagen: Sie hielten sich selber für Buddhisten, aber aßen zum Beispiel Fleisch 😃 redeten irgendwann intensiv in ganz absolute Tonfall auf mich ein, nur um später wieder eine Anything-Goes-Haltung anzunehmen. All diese Leute traf ich an einem Tag, plus noch einen deutschen Radfahrer, zwei Holländische Motorradfahrer, und Engländer. Und die portugiesischen Barkeeper… Was ich damit sagen will ist: ich treffe auf der Reise so viele verschiedene Menschen und Lebenswege, das macht einem echt den Kopf klar. Ich erzähle aber noch ein bisschen weiter, und komme dann später darauf zurück.
Von dem Strand schließlich, das ist die letzte Etappe, fuhr ich nach Aljezur, wo ich jetzt noch bin. Martin, den ich beim Wwoofen kennengelernt habe, einer der beiden Nach-Indien-Reisenden, hatte mir von einem Surfer-Hostel erzählt, bei dem ich vielleicht wohnen und arbeiten könnte. Mit dem Besitzer nahm ich Kontakt auf, es passte perfekt, und jetzt wohne ich also hier. Wir leben hier als 4 Männer, und den ganzen Tag kommen irgendwelche Surfer-Freundinnen und -Freunde vorbei, viele mit kleinen Kindern, oder mit Hunden, und viele mit Instrumenten, denn unsere Hauptbeschäftigung ist neben Essen und Schlafen Jam-Sessions. Die Leute hier sind wirklich sehr sympathisch, höflich und entspannt. Es ist auch hier wieder so, dass die Leute teilweise sehr intensive philosophische Einstellungen haben, und krasse Lebenswege (das Durchschnittsalter all dieser Leute und Freunde ist etwa 40). Hier bleibe ich jetzt also, und denke meine Reise ist, geographisch zumindest, am Ziel angekommen. Der Reise vierter Teil, wo ich in Aljezur wohne, hat also begonnen.
Gut, also worauf ich zurückkommen wollte. All diese Menschen, all diese Einstellungen, all diese Lebenswege… Es ist echt eine zentrale Erkenntnis dieser Reise. Alle streben sie irgendwie nach etwas, manche noch aktiv, manche sind schon ermüdet oder in irgendeiner Sackgasse hängen geblieben und streben nur noch frustriert und passiv, manche meinen die Wahrheit gefunden zu haben und sind total überzeugt davon, manche denken überhaupt nicht in der Kategorie „meine Philosophie“ oder „Wahrheit“ aber haben, ohne es sich bewusst zu sein und ohne darüber reden zu können, einen ganz klaren Kompass gefunden. Alle haben ihren eigenen Lebensweg, manche haben ihn bewusst gewählt, andere nicht, der eine Lebensweg ist, wenn man so will, „extrem“ oder außerhalb der Norm, ein anderer ist eher unspektakulär. Manche leben voll im System, manche halb im System, manche versuchen gar nichts mehr mit Behörden, Versicherungen und Arbeitgebern zu tun zu haben. Manche setzen auf Drogen, manche nicht. Manche haben enge Freundeskreise und Partner, andere reisen ihr ganzes Leben mehr oder weniger allein und haben immer nur kurze Vor-Ort-Freundschaften. Alle haben andere Herausforderungen, Schwierigkeiten und Kompromisse, keiner hat keine.
Das ist für mich sehr wertvoll, und eine Überraschung. All diese verschiedenen Kompasse kennenzulernen, die die einzelnen Menschen leiten, man beginnt Gemeinsamkeiten zu entdecken, Unterschiede. Deshalb verwirrt mich diese Vielfalt nicht, im Gegenteil, ich fange eben an, Muster zu erkennen, und all diese Einstellungen, auch meine eigenen, mit einer entspannteren Distanz zu betrachten. Manche inspirieren einen mehr, manche weniger. Viele haben Dinge verstanden oder gemeistert, die ich noch nicht verstanden oder gemeistert habe. Die eine Lehre, der ich mir aber nun ziemlich sicher bin, ist: „Es irrt der Mensch, solang er strebt“ sagt Goethe, und es ist gefährlich, zu meinen, man habe aufgehört, sich zu irren. Wir alle streben nach etwas, und es ist ein sehr gefährlicher Punkt, wenn man meint, es gefunden zu haben. Je überzeugter mir ein Mensch von „der Wahrheit“ erzählt, desto wahrscheinlicher, dass ich etwas ernüchtert und mit Mitleid ihm Gegenüber weiterziehe, da ich mir denke: ich wünsche ihm, dass er wieder an den Punkt kommt, wo er wieder anderen Ideen zuhört, sich selber Zweifel an seiner eigenen Einstellung erlaubt, und für neue Impulse offen ist. So oft hören sie nur zu, um sofort, während man noch redet, die neue Information in ihr bestehendes Framework einzupassen. Die inspirierendsten Mensch für mich waren diejenigen, die das unmittelbare menschliche Miteinander gemeistert hatten: freundlich waren, respektvoll, herzlich, offen, neugierig, energievoll. An einer echten Begegnung interessiert. Nicht die, die etwas Eindrucksvolles erzählten oder lebten. Es ist lustig, die, die dachten, mich total beeindruckt zu haben, oder hofften, mir total den Denkanstoß gegeben zu haben, haben es meistens nicht. Und die, die das wirklich getan haben, waren oder wären darüber wahrscheinlich überrascht. Shoutout to Herbert in Österreich, er war genau einer dieser inspirierenden Menschen 🙂
PS: Eine Anekdote zum Schluss, damit ich sie nicht vergesse: als ich mit dem Jürgen zusammen unsere Fahrräder in den Bauch der Fähre schob, wussten wir nicht, wo wir sie abstellen sollten. Unsere Mitreisenden auf der Fähre waren zu 95% marokkanische Händler. Einer von ihnen geht so zu mir und sagt ganz schwungvoll: „My friend, my friend!“ und zeigt mir einen unbeleuchteten, offenen Container, in dem ich mein Fahrrad abstellen soll. Ich – voll Vertrauen in die Welt – laufe ihm nach, und stelle mein Fahrrad abgeschlossen hinten in eine dunkle Ecke des Containers. Als der Jürgen das sieht, sagt er: „No way, da stell ich mein Fahrrad niemals hin, die Sache kommt mir spanisch vor. In dem schwarzen Loch da steht dein Fahrrad?!“ Ok, ich glaube ihm, nehme mein Fahrrad wieder raus, und wir stellen die Räder woanders ab. Jürgen lächelt schief und meint, der wollte uns wohl übers Ohr legen. Naja, und ich dachte mir halt: „Wow, da wär ich jetzt voll reingesappt! Ich, mit meiner Idiot-von-Dostojewski-Einstellung hätte ihm jetzt einfach vertraut, und bei der Ankunft wäre mein Fahrrad weggewesen! Dabei war ich bisher doch so gut damit gefahren, meinem Gespür für Menschen zu vertrauen! Was lerne ich jetzt daraus? Wie mach ich es in der Zukunft??“ Tada, und was war das Ende der Geschichte? Wir hätten dem Marokkaner vertrauen können, denn der Container war tatsächlich von der Fährgesellschaft für lose Gepäckstücke aufgestellt worden. Gute Geschichte, finde ich.
PPS: Sobald in Spanien mein Spiritus ausging, ging ich in einen kleinen Supermarkt in Barcelona, und dort gab es klaren, unparfümierten, 96%igen Spiritus. 69 Cent für 250ml. Ich hatte mich mittlerweile natürlich an das rosa Zeuchs perfekt gewöhnt. Jetzt riecht es zwar nicht mehr nach Kirsch-Kaugummi wenn ich koche, aber dafür rußt es wieder viel mehr. ¯\_(ツ)_/¯ Das als Nachtrag zur Spiritus-Geschichte. Hier in Aljezur aber brauche ich den Kocher aber natürlich nicht mehr zu benutzen, und ich schätze die neuen Annehmlichkeiten sehr, zum Beispiel fließend Wasser 😮