Livias Geschichte
Was für ein schöner gemütlicher Tag. Ich bin in Viareggio und couchsurfe bei Simone, bevor es morgen in Richtung Genova weitergeht. Eigentlich dachte ich, dass ich noch keinen Pausetag brauche, da ich ja erst am Freitag wieder losgefahren bin. Seit Freitag hat es aber, teilweise sintflutartig, geregnet, sodass ich schon gestern wieder am Ende meiner Kräfte war. Zum Regen kam hinzu, dass ich den Olivenernte-Bauernhof komplett planlos verlassen hatte, und deshalb meine Kleidung dreckig und die Akkus meiner diversen Geräte und Powerbanks schon leer waren, als ich losfuhr. Und mit dem Regen funktionieren meine Solarpanele viel schlechter. Auch gesundheitlich habe ich mich, wahrscheinlich wegen des Wetterumschwungs (hier ist es jetzt statt 23 Grad nur noch 14), angeschlagen gefühlt. Um diese schwierige Zeit zu krönen ist mir dann noch in der Nacht auf gestern eine 1.5 Liter Flasche Wasser, die ich im Schlaf nicht wieder richtig zugemacht habe, fast völlig ins Zelt ausgelaufen. Warum ist denn der Schlafsack an meinen Füßen nass, fragte ich mich. Das scheint ja vom Atem/Tau heute Nacht besonders nass zu sein, dachte ich mir. Und als ich meine Füße bewege höre ich es im Zelt richtig plätschern, da sich am Fußende wegen der Hangneigung das Wasser schön im Zelt gesammelt hatte. Tja.
Also, heute deshalb ein Pausetag um meine Sachen zu trocknen, und sich zu erholen. So habe ich fast den ganzen heutigen Tag im warmen, trockenen Bett gelegen und mich regeneriert.
Ich wohne hier bei einem sehr netten, schwulen, professionellen Koch (hier dieser See, Lago di Puccini, an dem Giacomo Puccini gewohnt hat, ist eine Schwulenhochburg, da in den Anfängen des Internets hier jemand die Domain www.gay.it ergattert hat 😃), der auf Luxusyachten für Madonna, die Beckhams und vor allem die Dolce&Gabbana-Brüder gekocht hat, die seine Arbeitgeber waren. Die Geschichten, die er aus dieser VIP Welt erzählt hat, sind komplett absurd: jeden Tag wird zum Beispiel die ganze Riesenyacht geputzt, also komplett gestaubsaugt, auch unter den Sofas und die Vasen und Skulpturen abgestaubt etc., obwohl die Besitzer sie sicher mehrere Monate nicht benutzen werden. Jeden Tag. Und für diese Crew, die auch im Winter die sinnlose Arbeit durchführt, jeden Tag eine komplett saubere Yacht nochmal zu putzen, zahlen sie etwa hunderttausend Euro im Monat. Und die Crew macht diesen Irrsinn mit, weil sie so gut bezahlt wird. Danach ist er, um die Balance wiederzufinden, nach Ruanda Entwicklungshilfe machen gegangen. Auf jeden Fall hat er mir ein paar interessante Tipps fürs Kochen gegeben, darunter:
⁃ in einer unbekannten Küche, die man benutzt, erstmal alle Schränke und Schubladen öffnen, und dann so vor der offenstehenden Küche stehen und sich einen Überblick verschaffen.
⁃ Das Essen vor dem Servieren ein paar Minuten stehen lassen, bis es aufgehört hat allzu sehr zu dampfen, damit man dann beim Essen nicht den Dampf, sondern die Gerüche im Gesicht hat. Immer die Teller vorwärmen. Lustig ist, wie er immer nur zum Essen seine Brille aufsetzt, das verleiht dem Essvorgang eine schöne Autorität.
⁃ Wenn man keinen Holzofen für die Pizza hat: Die Pizza komplett fertigmachen, aber ohne den Käse (Mozzarella). Dann in den heißestmöglichen Backofen, auf die unterste Schiene. Wenn der Boden perfekt ist, die Pizza rausholen, den Mozzarella drauf, und auf die oberste Schiene, bis der Mozzarella gut ausschaut. Die Soße für die Pizza macht er nur mit Dosentomaten und Salz. Oregano oder Knoblauch oder Basilikum wenn dann später als Belag oder zum Servieren drauf.
⁃ Auch interessant: in die Bolognese-Soße tut er ebenso viele Dosen Wasser wie Dosen Tomaten. Das hab ich noch nie gemacht. Außerdem Olivenöl, Zwiebeln, Karotten, Stangensellerie, ein Glas Wein, Rinderhackfleisch, Salz. Kein Knoblauch, kein Pfeffer, keine Kräuter.
Ich hoffe ich kann mich an die vielen Koch-Tipps und Erklärungen, die er mir ständig gibt, erinnern, wenn ich mal in die Situationen komme. Gute, wenige Zutaten sind aber das Wichtigste. Die Küche, die er am meisten bewundert, ist die indische, wegen der vielen Gewürze, die sie, wie Ratatouille in dem Film (sein Vergleich!), wie Zauberer in die Pfanne werfen und perfekt abschmecken.
Soviel zu dem Koch und meiner aktuellen Situation. Jetzt wollte ich noch die schöne Geschichte von der Livia und mir erzählen, dem 8 jährigem Nachbarskind auf dem Bauernhof. Es war sicherlich die bisher schönste Geschichte der Reise, wahrscheinlich, weil Kinder einfach so wunderbar in ihrem Wesen sind.
Livia hat nebenan gewohnt, und wenn ihre Schule aus war, kam sie eigentlich jeden Tag zu uns auf den Olivenhain und half mit, da es zu Hause langweilig war: ihr Vater (Journalist) war wegen der Frühschicht zu müde, um etwas zu tun, und die Mutter arbeitete. Bei unserer ersten Begegnung beim Ernten fragte ich sie, ob sie schon mal eine rohe Olive probiert hätte; hatte sie nicht. Ich erzählte ihr, dass zwar die grünen Oliven bitter wären, die schwarzen seien hingegen „dolcissime“, ganz süß, wie Weintrauben. In Deutschland würden wir aus Oliven Zucker herstellen, sagte ich, weil sie so süß seien. Ich versprach ihr, eine Postkarte aus Portugal zu schicken, wenn sie eine Olive probierte. Ich holte eine Gitarre und sang ihr ein „deutsches Volkslied über die Süße der Oliven“ vor. Und ich erklärte ausführlich, wie wir den Zucker aus den Oliven machen. Nunja, diesen ersten Nachmittag hielt sie tapfer und immer lachend meinem Drängen stand, und ihre Standhaftigkeit und Aufgewecktheit begeisterten mich. In den nächsten Tagen hab ich dann immer wieder Sachen mit ihr gemacht – gemalt, Papierflieger gebastelt, Blockflöte gespielt, geschnitzt, Uno gespielt, ein Feuer gemacht, ich hab ihr das Haus-vom-Nikolaus-Malen beigebracht („La casa die Babbo Natale“) etc. – und mich lange mit ihr über alle möglichen Dinge unterhalten. Es war echt cool, wie geduldig sie war, wenn ich ein Wort nicht wusste, und wie gut sie das gebrochene Italienisch verstand. Natürlich kam ich immer wieder auf das Oliven-Probieren zurück, das war sozusagen unser Running Gag, und immer weigerte sie sich, aber total lachend. Irgendwann lud sie mich auf ihren Kindergeburtstag ein, und war sehr traurig, als es klar wurde, dass ich ein paar Tage davor abreisen würde. Der Gastvater fragte mich, warum ich ihr lauter Quatsch erzähle statt wahren Dingen, sodass sie etwas lernen könnte. Aber er hat recht, als er auf meine Erklärungen antwortete, dass an mir ein Pädagoge verloren gegangen sei, denn: ich bin davon überzeugt, dass das einzige, was für die Kinder (und Erwachsene) zählt, ist, dass die Geschichten irgendwie spannend oder unterhaltend sind. Dass sie nicht stimmen (wie als ich ihr beim Zeigen eines Kratzers auf meinem Bein erzählt habe, dass mich ein Wolf und sein Freund, ein Bär, am Vormittag angegriffen hätten, dort hinten beim Waldrand), dass sie also nicht stimmen, merken die Kinder ja selber oft, und freuen sich an dieser verrückten Mischung aus Quatsch und wahren Geschichten, und je verwirrender es ist, je unklarer, ob wahr oder falsch, desto interessanter ist es ja.
Nungut, es kam also der letzte Nachmittag, und ich sagte ihr natürlich schon bald, dass wenn, dann müsse sie heute die Olive probieren, da es ja mein letzter Tag sei. Obwohl sie sich vordergründig weigerte, setzte sie sich als Feierabend war doch neben mich ans Feuer und fing selber davon an zu reden. Sie müsse erst noch nach Hause ein Glas Wasser holen, damit sie den Geschmack schnell herunterspülen könne. Ich meinte „Dort hinten, unter der Leiter, steht der Tonkrug mit Wasser, den kannst du doch benutzen“ (also wenn ich das auf italienisch sage klingt das ungefähr so: „La! C‘é l‘acqua, nell terracotta. Puoi bevere di questo!“ Aber sie hat es verstanden…). Sie holte auch zwei Oliven für uns beide, und natürlich war es noch ein großes Drama (wir haben unter anderem einen Countdown bis 50 gezählt, an dessen Ende natürlich nichts geschah). Irgendwann biss sie aber doch in die Olive, und sobald ein klein bisschen Saft ihre Zunge berührte, warf sie sie weg und rief: „C‘é marissima!!!“ also: es ist sehr bitter! Und da kam der große, wundervolle Höhepunkt. Denn in dem Moment gab ich spontan nach, und sagte zu ihr leise und ernst: „É vero. C‘é marissima. Anché per me.“ Und so ein Erstaunen hab ich in meinen Leben nicht gesehen. Ihr Kinn klappte wirklich nach unten, und sie sah mich mit riesigen Augen an. Sie hatte mir natürlich über die vielen Situationen über die Woche hinweg angefangen zu glauben, dass schwarze Oliven – zumindest für mich, wie sie mir erklärte – süß sind. Ich hatte auch über die Woche hinweg bestimmt 10 Oliven vor ihr gegessen und immer ganz entzückte Grimassen geschnitten. Naja, also sie war völlig baff. Dann sagte ich: „Io fatto un scherzo. Non facciamo zucchero di Olive nel Germania!“ Und sie war so baff, so völlig überfordert von der Situation, aber dann fing sie an Tränen über sich selbst zu lachen, und bis zum nächsten Morgen, immer wenn wir uns sahen, lachte sie aus ganzem Herzen, und sie ging zu einem nach dem anderen auf dem Hof und fragte sie: „HAST DU GEWUSST, DASS ES NUR EIN SCHERZ WAR? Ich habe alles geglaubt! Alles! Alles!“ Also so etwas hatte sie auf jeden Fall in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt. Sie hat einfach wundervoll über sich selbst gelacht, lange lange. Später erzählte sie mir noch, dass sie mir das mit der Zuckerproduktion zuerst nicht geglaubt hat, aber nachdem ich es so ausführlich beschrieben hatte, wie wir das machen, hatte sie es doch geglaubt. Total interessant finde ich auch, wie sie, als sie die Olive probiert hatte, ja schon wusste, dass sie super bitter sind, aber die ganze Sache mit den süßen Oliven immer noch glaubte. Erst in dem Moment, als ich sagte „Auch für mich!“, brach das ganze Kartenhaus in einem großen Knall zusammen.
Also das war eine wunderschöne Geschichte. So ein großes Abenteuer war diese Woche für sie, die sich mit dem bärtigen Deutschen angefreundet, und Oliven probiert hatte.